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XX.
Deutschland und der Völkerbund
Als Deutschland das Sicherheitsproblem zum Gegenstände seiner eigenen
Politik machte, um zu verhindern, daß England und Frankreich einen Pakt
schlössen, der sich gegen Deutschland richtete, sind die von ihrer Welt
politik in Anspruch gmommenen Mächte ihm nicht ohne Grund eilfertig
entgegengekommen, um ihm unter dem Baldachin des Völkerbundes
den historisch gewordenen Vertrag zu bieten.
Deutschland hat mit der Annahme dieses Vertrags nicht nur eine Stel-
lung innerhalb des verschnörkelten Vertragssystems bezogen, das auf den
Grundfesten des Vertrages von Versailles und über den Satzungen des
Völkerbundes errichtet worden ist, sondern auch die Ziele seiner äußeren
Politik nach neuen Gesichtspunkten unterschieden. Es hat das centrum
gravitatis von Westen nach Osten verschoben. Der Kampf um den Rhein
ist abgebrochen worden. Der Deutsche vertraut am Rhein auf einen Gottes
frieden und hat dem Kampf um die verloren gegangene Niederweichsel und
das abgerissene Stück Oberschlesiens das Primat eingeräumt. Er weiß,
daß er auch diesen Kampf nicht mit der Schärfe des Schwertes ausfechten
kann, und daß die in Locarno geschlossenen Verträge ihm auch im Osten
Verzichte auferlegen, aber er steht hier nicht vor historisch geordneten und
von tausendjährigem Kampfe hin und her geschobenenGrenzen. Die daraus
sich ergebende Verlagerung des deutschen politischen Schwergewichts er
innert an die Abkehr des friderizianischen Preußens vom Rhein und an
dessen Abstützung auf die Oder. Aber sie wird nicht von friderizianischer
Stärke getragen, sondern erscheint als eine Manifestation noch nicht über
wundener Schwäche.
Vermöchte Deutschland seine souveräne Stellung an den Äsern des
Rheins wieder zu gewinnen, so bedürfte die Lösung des Problems der
deutschen Grenzsetzung im Osten keiner besonderen Anstrengung mehr,
denn der Polnische Korridor, den die französische Strategie geschaffen, und
die Zerreißung Oberschlesiens, die aus einer unbilligen Entscheidung des