Volltext: Das Trugbild von Versailles

gegolten fyattt, rückwirkend als eine strafwürdige Handlung gekennzeichnet. 
Kein über den Parteien thronendes Gericht fällte diesen Schuldspruch, und 
die Schuldfrage selbst blieb der Erörterung entzogen. Man betrachtete es 
einfach als erwiesen, daß Deutschland den Krieg gewollt und herbeige- 
fiihrt habe, machte aus der Legende ein Organ der Politik, schloß die 
eigenen Archive, ging über die geschichtliche Entwicklung eines halben Jahr- 
Hunderts mit Stillschweigen hinweg und hielt sich an die Tatsache, daß 
Deutschland sich im letzten Augenblick in die Rolle des Angreifers hatte 
manövrieren lassen und im Drange der Stunde über die innerlich 
geschwächte, äußerlich aufrechterhaltene belgische Neutralität hinwegge- 
schritten ist, ohne irgendein diplomatisches Instrument aus der Rüst- 
kammer der Geschichte hervorzusuchen und sich etwa auf das Besatzungs 
recht der belgischen Gründungsakte zu berufen oder die Gegner zum Vor 
tritt zu verleiten. 
Der Vertrag von Versailles ist unerfüllbar. Nicht nur weil er Deutsch- 
land in einen fehlerhaften Kreis sperrt, indem er ungeheure Summen und 
Leistungen von ihm fordert und ihm gleichzeitig die Möglichkeit nimmt, sich 
zu rühren und sie durch ungehemmte Entfaltung seines Landels und seiner 
Industrie aufzubringen und das ganze deutsche Wirtschaftsgebiet diesem 
Zwecke dienstbar zu machen, sondern auch weil seine Erfüllung an Fristen 
geknüpft ist, die sich nicht in einen vertraglichen Rahmen spannen lassen. 
Der Vertrag besitzt aber auch nicht die Eigenschaft eines Weltver 
trages. Er ist nicht einmal von allen kriegführenden Parteien angenom 
men und unterfertigt worden. Das russische Reich und die Vereinigten 
Staaten, wahrlich nicht die Kleinsten unter den Kleinen, sind ihm fern ge 
blieben. Er ist also kein Weltstatut, ja nicht einmal ein europäisches Statut. 
Aber er lastet trotzdem erdrückend auf Deutschland, auf Europa und auf 
der ganzen Welt und auf dem mit ihm kopulierten Völkerbund. Er hat 
Deutschland in der ganzen Welt keinen einzigen Rechtsanspruch gelassen, 
aber die Sieger sind über der Verteilung dieser Ansprüche in Zwiespalt 
geraten; er hat Deutschlands Grenzen verstümmelt, aber die neuen Grenz- 
setzungen haben den europäischen Raum nicht gegliedert, sondern aufge 
brochen; er hat Deutschland entwaffnet und das von der Entwaffnung 
handelnde fünfte Kapitel mit dem schmückenden Satz eingeleitet: „Am den 
Anfang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstungen aller 
Nationen zu ermöglichen...", aber die Welt starrt in Waffen wie 
nie zuvor; er hat den Friedenszustand erklärt, aber einem neuen kriege- 
rischen Verfahren, dem bewaffneten Einmarsch zum Zwecke der Inbesitz 
nahme territorialer Pfänder, den Weg bereitet; er ersann alle erdenklichen 
Sicherheitsmaßnahmen, um Deutschland niederzuhalten, aber Frankreich 
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