Volltext: Das Trugbild von Versailles

Als Karl der Große die Kaiserkrone gewann, fühlte sich zwar die medi- 
terranische Lälfte Galliens wieder emporgehoben und die ozeanische ver- 
schattet, aber der politische Raumbegriff blieb kontinental bestimmt, denn 
mächtig saß Karl auf beiden Äsern des Rheines, und die Ostmarken des 
Frankenreiches standen von der zimbrischen Halbinsel bis zur Savemündung 
als Bollwerke des Abendlandes in der chaotisch wogenden Slawenflut. Die 
Scheidung des Karolinger-Erbes in zwei Reiche, die der Verttag von 
Mersen auf einer Linie vollzog, die von der Mündung der Maas bis zum 
Genfersee lief, setzte dem Festlandsraum neue Binnengrenzen. Das West- 
frankenreich erstand in der voreäsarischen gallischen Gestalt, aber das roma- 
nisierte Westsrankentnm erkannte die Bindung nicht an, sondern stellte ost 
wärts gelegene kontinentale Machtziele auf, in denen der cäsarische Gedanke 
lebte. Der Kampf um den Rhein wird zur politischen Dominante 
der europäischenRaumgestaltung.Deutsch und Welsch rücken gegen 
einander. Das universal gedachte deutsche Kaisertum wird von dem national 
empfindenden Franzosentum am Rhein in die Verteidigung gedrängt. 
Die französische Machtbildung ist von der IleckeFrance aus 
gegangen. Da das fruchtbare, kulturgesättigte, von dreifachen Gebirgs- 
wällen umschirmte Seinebecken von der Natur zur Keimzelle eines Staates 
bestimmt war, wurde die Raumbescheidung, die in der Erfüllung dieses Ge 
bildes mit politischem Inhalt lag, Frankreichs Glück. 
Der französische Genius hat sich nicht verleiten lassen, in die ozeanische 
Weite zu schweifen, sondern ist seinen kontinentalen und mediterranischen 
Zielen freu geblieben, bis er des Raumes zwischen den Ardennen und den 
Pyrenäen und dem Ärmelmeer und dem Mittelländischen Meer Herr ge 
worden war. Erst als der große Festlandskampf mit England ausgekämpft 
war und der Brite auf die Beherrschung des Kontinents und der Gegen 
küste verzichtet hatte, richtete Frankreich den Blick auf den Ozean. Aber der 
Kampf um den Rhein blieb der herrschende Zug der Hegemonischen 
Politik des französischen Volkes. Frankreich ist über die Pyrenäen und 
die Seealpen gezogen und hat im Kampfe mit dem Spanier die Front mehr 
als einmal verkehrt, aber es hat auch in Katalonien und in der Lombardei 
konttnentale Ziele verfolgt. Die von den Römern ererbte Erkenntnis, daß 
der Besitz des Rheinstromes dem an zwei Weltmeeren gelegenen, auf 
die Pyrenäen und die Alpen gestützten Volke die Vorherrschaft über den 
Konünent verbürgte, wurde dem Franzosen zum unverrückbaren Leitstern 
seiner Politik. Von diesem Legemonialgedanken hat die französische Natton 
sich niemals abgewendet, und wir erkennen an dem Gang der Geschichte, daß 
indiesemKampfumdenRheindasZentralproblem der europäischen 
Geopolitik gewälzt worden ist. Ein einziger Blick auf das Jahrtausend, 
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Stegemann, Versailles L
	        
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