Volltext: XIV. Jahrgang, 1909 (XIV. JG., 1909)

Nr. 15. 
Ober österreichische Bauzeitung. 
Seite 115. 
hat auch diesem Gebirgsbächlein ein gewaltiges breites 
Bett erbaut, von hohen, schützenden Dämmen umschlossen. 
Wie ein Wiegenkind in einem englischen Doppelbett 
krabbelt nun das Wässerchen zwischen den Dämmen 
einher und im Herbste und in den Monaten des Jahres, 
in denen der Regen es stärkt und kräftigt, treibt es auch 
gutmütig das Räderwerk der Marmorfabriken, die rechts 
und links an seinen Ufern sich erheben — es bewegt die 
Sägen, welche die Blöcke zerschneiden und leistet noch 
manch anderen guten Dienst. 
Aber nun öffneten sich vor mir die beiden großen 
Marmortäler. Rechts, wo man an den Bergwänden das 
weiße Geröll weithin leuchten sieht, das Römertal. Dort, 
sagt „Baedeker“ bedeutungsvoll, brachen schon die alten 
Römer. Und dann links, ein wenig beschwerlich zu er¬ 
reichen, weil pfadlose Berghügel sich davorlagern, das 
Tal von Torano, wo der feinste Marmor gewonnen wird, 
der Marmor, in dem die alten Götter die verlorene Un¬ 
sterblichkeit wiedergefunden. 
Es ist ein schmales Tal, eng eingesohlossen zwischen 
zwei Höhenzügen. Über die Höhen zur Rechten gehen, 
durch manchen finsteren Tunnel hindurchgeführt, die 
beiden Bahnlinien, die den Marmortransport vermitteln — 
eine alte und eine junge. Und nun, ein paar hundert 
Schritt in das Tal, taucht der erste Marmorfelsen auf, 
und gleich der allervornehmste, allerkostbarste. Es ist 
ein mächtiger Berg, der vom linken Höhenzuge ins Tal 
hereinspringt und es zusammenpreßt, daß es fast die 
Luft verliert. Die an der Außenseite rötlichen Steinlager 
türmen sich zu mächtiger Höhe empor und in ihrer 
Mitte geht es bis hinunter zum Tal, wie ein weißer Erd¬ 
rutsch, wie ein leuchtender, schimmernder, steinerner 
Strom, das Geröll, das kleine Gestein, das die Arbeiter 
losgeschlagen haben, um zu den eigentlichen Lagern zu 
gelangen, und das nun in breiter Flut heruntergerollt ist 
und immer noch mit zürnendem Poltern herunterrollt, 
ärgerlich, nicht mittun zu dürfen in dem Siegeszug der 
Schönheit. Oben, hoch oben auf dem rötlichen, wie vom 
Blitz zerrissenen Felsenberg, über den das dunkle Moos 
seine weichen Decken gebreitet hat, sieht man wie 
schwarze Würmchen die Arbeiter herumhuschen, die der 
weißen Braut die Befreiung aus ihren Fesseln bringen. 
Dieser Marmorberg ist „Grestola“ getauft worden. 
Er wird nicht mit Sprengpulver bearbeitet, denn er ist 
gar zu fein, und nichts darf von seiner Kostbarkeit ver¬ 
loren gehen. Große Blöcke bringt er nur selten, und 
darum wird der Kubikmeter mit der Kleinigkeit von 
1300 Frcs. bezahlt. Aber er ist zart wie das Mägdelein, 
das leise zunUersten Stelldichein schleicht, er ist durch¬ 
sichtig und leuchtend, als hätte in seinem Innern der 
Berggeist seine Wohnung aufgerichtet, mit tausend 
strahlenden Flämmchen. 
Immer enger wird das Tal, wo nun rechts und links 
die roten, moosbedeckten Marmorfelsen grüßen. Dort, 
wo es Zum letztenmale die Bergwände mutig zur Seite 
geschoben hat, liegt das kleine Dörfchen Torano. Es 
sind nur ein paar Häuser, eng zusammengedrängt wie 
eine Hammelherde beim Gewitter, und doch ist aus diesem 
winzigen Dörflein eine lange Reihe von Männern hervor¬ 
gegangen, die in der Geschichte moderner italienischer 
Kunst mit allen 'Diplomen und Medaillen verzeichnet 
stehen. 
Welch scharfsinnige Erörterungen können an dies 
Faktum nur einigermaßen geschickte Psychologen von 
Fach knüpfen, sie, die Würmer, die dem Menschen noch 
bei lebendigem Leibe unter die Schädeldecke zu kriechen 
streben! Und mit wie viel schmerzvoller Ueberzeugung 
können die dornumkränzten Verkannten hier dartun, daß 
es die Gelegenheit sei, die nicht nur die Diebe, sondern 9 
auch die Künstler mache. Die Gelegenheit allein. Denn 
wie einst der Anblick des Medusenhauptes tötete, so 
scheint hier der Anblick der Marmorfelsen belebend 
gewirkt zu haben. 
Aber es sind doch nur die kleinen Bächlein, die nicht 
vom Berge herunter können, wenn ihnen nicht die Ge¬ 
legenheit dazu gegeben wird; ein ordentlicher Gießbach 
dringt schon durch und, wenn er, wie in Ligurien, all 
die holperigen Gehwege einreißen sollte. Den Achill 
konnte man in Mädchenkleider stecken und belügen, er 
sei ein Jungfräulein — der Tag kam, wo er hinging und 
den Hektor totschlug. 
Und nun, hinter dem Dörflein Torano, wo all diese 
großen Männer und all die schönen Betrachtungen geboren 
wurden, läuft in unzähligen Windungen, leise aufsteigend, 
das Tal immer weiter und weiter, drängt es sich zwischen 
den Bergen hindurch, zwischen diesen roten, von Regen 
und der Zeiten Bedrängnis bisweilen pechschwarz ge¬ 
wordenen Felsen, vor denen die losgesprengten Blöcke 
liegen, so groß wie die Häuser von Carrara. Dort, wo 
solche Blöcke herausgesprengt sind, sieht man, wie in 
sauberen regelmäßigen Schichten, größer und kleiner, die 
Marmorlagen stufenförmig übereinander ruhen. Hier und 
dort hat man auch den schon angebrochenen Fels wieder 
verlassen, weil die Blöcke sich als zu klein und gering¬ 
wertig erwiesen haben. Nur die großen kommen zur 
Herrschaft, wie überall in der Welt. 
All diese Berge, die weit, ach so unendlich weit ihre 
rotdunklen Rücken wölben und unter schroffen Vor¬ 
sprüngen die kleinen verwitterten Häuschen der Wärter 
und die halboffenen Lagerschuppen bergen, sie alle haben 
Herzen von Marmelstein, und zwar von jener Abart, die 
weniger fein als „Grestola“, aber doch mitunter noch 
recht achtunggebietend ist. Und zu ihrem Ruhme und 
zu ihrer Ehre muß ich sagen, daß aus ihr heraus all die 
marmornen Garibaldis entstanden, die auch des kleinsten 
italienischen Marktfleckens Schmuck und Zierde sind, 
und daß aus diesem wetterharten Marmor „ordinario“ 
der große Michelangelo seinen kecken David heraus¬ 
geklopft hat. Denn „Grestola“ ist nur ein Stubenhocker, 
er hat eine feine Natur und erträgt nicht viel freie Luft 
— „Ordinario“ aber ist stark und hart wie ein Riese und 
lacht über die Zeit, die wie der hurtige Wind an ihm 
vorüberrauscht. 
All diese Marmorberge hat die Kommune von Carrara 
verkauft, an allerhand kluge Leute, vor allem an einen 
Herrn aus England und an einen Herrn aus Frankreich. 
Carrara, das auch einen stattlichen Ausfuhrzoll erhebt, 
ist reich geworden und die klugen Leute sind auch reich 
geworden. Und man braucht auch noch gar nicht zu 
befürchten, daß dieser Marmorsegen eines Tages ein 
Ende nehmen wird, denn es ist, als wüchse er geheim¬ 
nisvoll nach, als wäre er unerschöpflich. 
Und nun geht durch die Täler der Warnruf des 
Hornes, der so bang und melancholisch klingt und die 
Sprengung ankündet, und dann erschüttert ein Krachen 
die zitternde Luft, die Mine ist explodiert, und man hört 
die Blöcke ins Tal stürzen, und hört, wie das kleine 
Geröll eilfertig hinunterrasselt. Die Arbeiter schauen auf 
einen Augenblick auf, dann greifen sie wieder zur Spitz¬ 
hacke und kümmern sich um nichts in der weiten Welt,
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.