Volltext: XIII. Jahrgang, 1908 (XIII. JG., 1908)

Seite 124. 
Oberösterreichische Bauzeitung. 
Nr. 16. 
würden, damit die Sing- und Betstunden (horae canonicae) 
genau abgewartet werden könnten. Dem Vorgänge Italiens 
und Frankreichs folgten bald auch England, die Schweiz 
und verschiedene andere Länder. Wann Deutschland nach¬ 
gefolgt ist, läßt sich nicht genau angeben. Wahrschein¬ 
lich geschah es um die gleiche Zeit, denn im elften Jahr¬ 
hundert ist in Augsburg schon von zwei Glockentürmen 
des Domes die Rede. Die Türme waren anfangs in den 
meisten Orten sehr kunstlos erbaut, und standen nicht 
selten als ein rohes Balkengerät vom Gotteshause isoliert 
da, wie man es in einzelnen armen Gebirgsgemeinden zu¬ 
weilen noch findet; aber später gehörten die Türme zu 
den Hauptzierden der Christentempel, und in jeder Dorf¬ 
schule wird jetzt von den erhabenen, prachtvollen Turm¬ 
zierden des Münsters zu Straßburg, der Peterskirchkuppel 
zu Rom, des Stephansdomes zu Wien, der Paulskirche 
zu London 9/a gesprochen. 
Alle diese und Millionen andere Türme umschließen 
gegenwärtig prächtige und der Größe nach erstaunens¬ 
würdige Glocken, deren metallener Mund die Menschen¬ 
brüste in ehrfurchterweckender Weise durchzittert. 
Als einmal der Gebrauch der Glocken eingeführt 
worden war, nahm bald auch die Sucht überhand, die¬ 
selben in höchstmöglichster Größe herzustellen und durch 
die Taufe der hohen Bestimmung zuzuweisen. So ent¬ 
standen wahre Riesenglocken, von welchen wir nur einige 
hier nennen wollen. Die von Campen gegossene und von 
Dr. v. Lappen getaufte „Susanna“ in Erfurt wiegt 275 
Zentner, hat 24 französische Fuß im Umfang und wird 
von einem 4 Fuß langen Klöppel erzittert, der allein 
11 Zentner wiegt. Im mittleren Domturme zu Olmütz in 
Mähren hängt eine Glocke von 358 Zentner Gewicht; 
1711 goß man in Wien eine Glocke, welche 354 Zentner 
wog und einen 9x/2 Fuß' langen und 8 Zentner schweren 
Klöppel hatte. Auch in England suchte’ man sich ähn¬ 
liche Zierden zu verschaffen, und der Dom zu Paris 
empfing im Jahre 1680 eine Glocke von 25 Schuh Um¬ 
fang und 310 Zentner Schwere. 
Doch kein Land ist in der Liebhaberei für große 
Glocken wohl weiter gegangen als Rußland. Auch die 
kleinste russische Kirche hat Glocken, und die G;emeinde- 
mitglieder sind stets auf Vermehrung und Vergrößerung 
derselben bedacht. Esfist dort nichts seltenes, daß Sterbende 
in ihrem Testament ein Kapital zur Anschaffung einer 
neuen Glocke bestimmen und dabei zu ihrem ewigen Ge¬ 
dächtnis verordnen, daß die Glocken ihren Namen, sowie 
den Geburts- und Sterbetag tragen. Auf den bedeutenderen 
Märkten Rußlands kann man stets ein großes hölzernes 
Gerüst finden, auf welchem Glockenhändler ihre metallene 
Ware in genauer Abstufung von den kleinsten bis zu den 
größten Glocken zum Verkaufe aufgehängt haben. — Zu 
den russischen Kirchen gehört fast ohne Ausnahme ein 
besonderer Glockenturm, da die kuppelähnlichen Türme 
über den Kirchen sich zur Aufnahme der Glocken nicht 
eignen. Manche arme Gemeinde besitzt auch nur ein ein¬ 
faches bedachtes Holzgerüst, ja hie und da sieht man die 
Glocken wohl gar unter Bäumen, besonders an stark¬ 
ästige Eichen aufgehangen. Die Russen bringen ihre 
Glocken nicht in Schwung um zu läuten, sondern sie be¬ 
festigen an dem Klöppel Stricke, und ziehen diesen nach 
der inneren Wand der Glocke, oder sie lassen von außen 
Hämmer auf dieselben. Bei sehr großen Glocken ist dies 
nicht das Werk eines Menschen. Soll z. B. der Klöppel 
der größten Glocke auf dem Iwan Weliski, dem höchsten 
Turme Moskaus, in Bewegung gesetzt werden, so sind 
die Kräfte , von mindestens . zwanzig starken Männern 
nötig, um den ungeheuren Klöppel von der einen Seite 
in entgegengesetzter Richtung nach der anderen zu 
zerren und dadurch zum Anschlägen zu bringen. Das 
Tönen der Glocke soll dem Rollen des Donners ähnlich 
sein. Sie ist 1819 gegossen worden und heißt vorzugs¬ 
weise „Bolschai“, d. i. die große. Vor dem großen Brande 
im Jahre 1812 hingen in Moskau über 1200 Glocken, 
deren viele zersprungen und zerschmolzen sind. Einige 
von ihnen sollen an 4000 Zentner schwer gewesen sein. 
Bei kleineren Glocken ist das Bewegen der Klöppel häufig 
das Werk eines einzigen Mannes, des russischen Küsters. 
Derselbe bedarf zu seinem Amte einer besonderen 
Kunstfertigkeit. Wenn er — erzählt ein Berichterstatter 
— nur ein paar Glocken zu bearbeiten hat, kann er sieh 
zwar bequem auf einen Stuhl in der Mitte hinsetzen, und 
er hat nur abwechselnd bald an dem einen, bald an dem 
anderen Stricke zu ziehen. Sollen aber eine Menge Glocken 
zugleich ertönen, dann muß er sich die Stricke teils um 
die Finger der beiden Hände, teils um die Beine und den 
der größten Glocke um den Leib schlingen, um so durch 
die verschiedenen Bewegungen, die er bald rückwärts, 
bald rechts bald links macht, die„ einzelnen Hämmer, zu 
bewegen, und wie komisch auch der Anblick eines solchen, 
mit Händen, Füßen und dem ganzen Leibe hin- und her- 
pappelnden Glöckners ist, so bedauert man doch den 
Mann, wenn man die hellen Schweißtropfen sieht, welche 
ihm die beschwerliche Arbeit kostet. Gleichwohl machte 
die Sache einem russischen Zaren der früheren Zeit so 
viel Vergnügen, daß er es sich nicht nehmen ließ, bei 
seiner Hofkirche selbst das Glöckneramt zu verwalten. 
Von außereuropäischen Völkern lieben besonders 
die Chinesen die Glocken. Sie bringen dieselben sogar 
als Verzierung der Gebäude, besonders der Türme an. 
Ü;»0 6iW fCtt/a XOiJ iiiiiX HVXtJ . 
Auf, ihrev Tempel verwenden die Chinesen nicht eben 
viel, dagegen lieben sie schöne Türme, die oft eine Höhe 
von zweihundert Fuß erreichen und aus verschiedenen, 
nicht selten aus sechs bis acht Stockwerken bestehen. 
Jedes Stockwerk hat ein hervorspringendes Dach, an 
dessen Ecken bewegliche Glocken hängen, welche im 
Winde tönen. Der schönste dieser Türme ist der mit 
vielen Glocken behangene, äußerlich mit Pozerllanfliesen 
bekleidete Porzellanturm zu Nanking. In Peking befindet 
sich eine Glocke, welche die „Susanna“ in Erfurt an 
Größe weit überragt. 
Der jetzige Gebrauch der Glocken hat in verschie¬ 
denen päpstlichen Verordnungen früherer Zeit seinen 
Grund. Das sogenannte. Morgenläuten wurde im drei¬ 
zehnten Jahrhundert von Papst Gregor IX., das Abend¬ 
läuten aber von Johannes XXII. im Jahre 1325 ange¬ 
ordnet. Der letztere befahl dabei zugleich das Beten des 
englischen Grußes. (Ave Maria.) Als im Jahre 1456 zwei 
Kometen erschienen und dieselben für Unglücksboten, 
besonders für Ankündiger der gefürchteten Türken ge¬ 
halten wurden, ordnete Papst Calixt III. im nächsten 
Jahre die Betglocke zur Mittagszeit an, und auch dies 
Mittagläuten ist bis heute verblieben. Der Gebrauch der 
Glocken an Sonn- und Festtagen, sowie bei anderen fest¬ 
lichen Gelegenheiten, nicht minder bei Taufen, Trauungen 
und Begräbnissen ist in seiner tieferen Bedeutung von 
niemand erhabener geschildert worden, als von dem 
großen deutschen Sänger Schiller in seinem unsterblichen 
Gedichte: ;;Die Glocke“. 
Die Taufe der Glocken schreibt sich aus dem achten 
Jahrhundert her, die Glocken erhielten dabei eigene, be¬
	        
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