Volltext: XI. Jahrgang, 1906 (XI. JG., 1906)

Seite 12. 
Oberösterreichische Bauzeitung. 
Nr. 2. 
den Standpunkt nationaler. und sittlicher Entrüstung 
stellt. Die Redensarten von „frivolem wälschen Tand“ 
und von „weichlicher Entartung“ sollten uns füglich er 
spart bleiben, seitdem die beiden genannten Formen 
gattungen in unser heutiges Tagesleben wieder ein 
getreten sind und den Anspruch erhoben, daß wir zu 
ihnen ehrlich und ernstlich Stellung nehmen. Und nicht 
bloß an den produzierenden, an den schaffenden Künstler 
richtet sich dieser Anspruch. Jeder aus dem Publikum, 
dem der Silberschmied, der Möbelfabrikant die ge 
schweiften und reichen Formen des XVIII. Jahrhunderts 
als „das Modernste“ anpreist, wird das Bedürfnis haben, 
sofern ihm diese Rücksicht auf das Modernste nicht Motiv 
genug ist, sich darüber klar zu werden, warum sich die 
Gunst der Allgemeinheit neuerdings diesen Formen zu 
wendet. 
Stehen dieselben doch in einem gewissen Gegensatz 
zu dem Stil der deutschen Renaissance, der zu Liebe er 
noch kürzlich seine ganze Hauseinrichtung hat um 
arbeiten lassen, in einem so ausgesprochenen Gegensätze, 
daß man kaum begreift, wie man das Eine und das 
Andere gleichzeitig schön finden kann. 
Daß man dies dennoch kann, das ist eben der Vor 
zug unserer so gänzlich unparteiischen Zeit. Ein eigener, 
allgültiger Stil, der aus unserer heutigen Kultur hervor 
gewachsen wäre, wie beispielsweise die Gotik aus der 
jenigen des XIII. Jahrhunderts, und der wie jene, in 
weniger als einem Menschenalter die ganze abendländische 
Welt erobert, von keiner politischen oder Nationalitäts 
grenze zurückweichend — ein solcher Stil des XIX. Jahr 
hunderts fehlt uns bekanntlich und wir begnügen uns 
seit mehr als drei Generationen damit, in die Ver 
gangenheit zu greifen und bald diese, bald jene Formen 
sprache derselben als die allein passende in unsere 
heutige Baukunst aufzustellen. Treffen wir dabei auf 
eine völlig ausgelebte, bis in ihre letzten Konsequenzen 
entwickelte Stilgattung, wie es die Gotik war, so besteht 
die Wiederaufnahme in einem mehr oder weniger regel 
rechten Kopieren. — Ist dagegen ein Stil an der Reihe, 
der, wie der romanische oder die „deutsche Renaissance“ 
in der Vergangenheit noch nicht sein letztes Wort ge 
sprochen hat, sondern kurz vor dem Abschluß seiner 
Entwicklung durch eine mächtigere Richtung überholt 
und verdrängt wurde; so bleibt den schöpferischen 
Geistern unserer Tage die dankbare Gelegenheit, an dem 
überlieferten Rest weiterzubilden und die Konsequenzen 
im modernen Sinne zu ziehen, zu welchen den früheren 
Jahrhunderten keine Zeit gelassen war. 
Früher noch, um die Mitte unseres Säkulums, war 
das Ausgraben und Wiederaufrichten eines alten Stils 
meist mit einer großen Erregung der Geister verbunden. 
Man verpflichtete sich nicht nur mit Kopf und Hand, 
sondern auch mit dem Herzen dem gewählten Stil, und 
wir wissen von erbitterten literarischen Kämpfen, welche 
rheinische Gotik gegen Berliner Griechentum aus- 
gefochten. Heute hat eine friedlichere Stimmung Platz 
gegriffen, man achtet auch die Überzeugung desjenigen, 
der nicht zur gleichen Fahne schwört, und sucht nicht 
mehr mit dem früheren Fanatismus für denjenigen Stil 
Propaganda zu machen, zu dem man selbst sich bekennt. 
Der Hauptgrund für diese erfreuliche Erscheinung 
liegt wohl in der im neuen Deutschland so gewaltig ge 
steigerten Zahl der Aufgaben des Privat- wie des Monu 
mentalbaues, die jedem Gelegenheit geben, unbekümmert 
um den Nachbar, seine Überzeugung zu vertreten. Sehr 
wesentlich spricht aber auch die Schnelligkeit mit, in 
welcher sich heute der Wechsel des Geschmacks vollzieht. 
Denn gewaltig rasch geht es in den letzten Jahr 
zehnten mit dem Aufnehmen und Fallenlassen der 
Formensprachen in den dekorativen Künsten ! Bei dem 
Tempo, in welchem die romantische Schule dem Klassi 
zismus, der Romantik, die Renaissance, dieser jetzt wieder 
die Stilarten der Spätzeit gefolgt sind, scheint es gar 
nicht mehr lohnend, seine volle Überzeugung für einen 
Stil einzusetzen, der uns vielleicht im Augenblick 
besonders nach dem Herzen ist, von dem wir aber nicht 
bestimmt wissen, ob unsere persönliche Entwicklung uns 
nicht schon binnen kurzem über ihn hinaus führen wird, 
rascher vielleicht als die allgemeine Geschmacksrichtung 
mit ihm fertig wird; denn das persönliche ästhetische 
Wohlgefallen ist noch von anderen Faktoren abhängig 
und wechselt daher unter Umständen schneller als das 
der Allgemeinheit. 
Erinnern wir uns doch, daß Goethe, auch der bildenden 
Kunst gegenüber eine der feinfühligsten Naturen, noch 
im Jahre 1772 beim Studium des Straßburger Münsters 
seine Betrachtung über „deutsche Kunst“ schrieb, jenen 
den Manen Erwins von Steinbach geweihten Lobgesang 
der gotischen Baukunst — und daß er schon 15 Jahre 
später von Venedig aus diese Regung selbst verneint 
und die Hoffnung ausspricht: „von den „kauzenden 
Englem“ nun auf die Dauer befreit zu sein“. 
Fortsetzung folgt. 
Bildhauerei und Malerei bei den primi 
tiven Völkern. 
Die moderne Kunst geht, .und .dasJst. ihr Unterschied 
von der klassischen, vielfach auf eine Verwischung der 
Grenzen zwischen Malerei und Skulptur aus. Man be 
wundert die fast plastische Kraft, mit der die Maler ihre 
Figuren aus dem Fond herausmodellieren, und preist an 
den Marmorwerken Rodins die momentane malerische 
Lebendigkeit, die Verwendung von Licht und Schatten. 
Manche Künstler sind zugleich Maler und Bildhauer und 
diese beiden Zweige der bildenden Kunst gelten als mit 
einander innig verwandt. Dem gegenüber weist ein Auf 
satz des rühmlichst bekannten Jose Melila auf die völlig 
anders gearteten Seelenkräfte und Formen der Begabung 
hin, die zu einer plastischen und malerischen Schöpfung 
veranlassen; ja, er möchte unter den Völkern einen ge 
wissen Gegensatz der Anlage feststellen, der zu tief in 
ihren Lebensbedingungen begründet ist und die einne 
zur Formung der Welt in Statuen, die anderen zur Ge 
staltung der Dinge in Bildern hintreibt. Wohl ist schon 
oft gesagt worden, daß den Griechen z. B. ein besonderes 
Genie der plastischen Kraft eigen gewesen sei, den Ve 
nezianern vielleicht wieder ein spezifisch malerisches 
Vermögen, aber solche komplizierte Kulturen will Melila 
nicht vergleichen, weil sie zu keinen sicheren Resultaten 
führen; vielmehr versucht er aus der primitiven Kunst 
wilder Völker die Gegensätzlichkeit malerischer und sta 
tuarischer Begabung zu erweisen. 
Unter allen wilden Völkern bezeigen die Australier 
das ausgesprägteste Talent zum Zeichnen und Malen. Sie 
haben bereits früh eine eigene Ornamentik entwickelt, 
dekorierten ihre Waffen und Geräte mit einem phantasti 
schen Spiel von Linien und Mustern; ja, sie haben sogar 
schon eine monumentale Wandmalerei, in der ein müßiger
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.