Volltext: X. Jahrgang, 1905 (X. JG., 1905)

Seite 68. 
Ober österreichische Bauzeitung. 
Nr. 8. 
Die Wucherer in der Industrie. 
Wie in fast jedem lebendigen Organismus sich ge¬ 
wisse Schmarotzertierchen einnisten und mehr oder 
weniger Schaden oder krankhafte Zustände verursachen, 
so ist auch die Industrie nicht freigeblieben von Er¬ 
scheinungen, welche mit dem obenerwähnten tierischen 
Schmarotzertum die genaueste Ähnlichkeit haben. 
Die ausgedehnte Kreditwirtschaft einerseits und Über¬ 
produktion in manchen Industriezweigen anderseits 
bringen es mit sich, daß der Trieb nach. Selbständigkeit, 
der ja mehr oder weniger in jedem Individuum vorhanden, 
dazu mißbraucht wird, Unternehmungen ins Leben zu 
rufen, deren Lebens- und Entwicklungsfähigkeit schon 
von vornherein ausgeschlossen erscheint, daß ihnen die 
solide Basis des genügend vorhandenen eigenen Kapitals 
fehlt, wozu dann noch in nicht den wenigsten Fällen 
der Umstand kommt, daß der betreffende Unternehmer 
nicht den schlechterdings notwendigen Fonds von tech¬ 
nischen und merkantilen Kenntnissen besitzt. 
Wer das wirtschaftliche Leben der Gegenwart mit 
ruhigem Auge betrachtet, der wird schon oft die Beob¬ 
achtung gemacht haben, daß so manches Falliment 
unter den vielen, welche jahraus jahrein die Gerichts¬ 
tafeln bedecken, lediglich die naturnotwendige Folge 
einer mit ungenügenden eigenen Kapitalien unternom¬ 
menen Selbständigkeitmachung war, bei welcher auf den 
heutzutage so leicht zu bekommenden Kredit hin ge¬ 
sündigt wurde. Dieser Kredit ist aber ein sehr zwei¬ 
schneidiges Schwert: Auf der einen Seite am richtigen 
Platze und .richtigem Maße angewendet, von segens¬ 
reicher, die Industrie und den Wohlstand fördernder 
Wirkung, führt er auf der andern Seite, wenn mißbraucht, 
schlechterdings zum Ruin des Individuums, wie zur 
Schädigung ganzer Industriebranchen. 
Ganz besonders ist aber letzteres da der Fall, wo 
der Kredit zur Ausbeutung und Bewucherung des ein¬ 
zelnen von gewissenlosen, egoistischen Geschäftsleuten 
benützt wird, welche sich, wie die Schmarotzergeschöpfe 
im tierischen Organismus in den sonst gesunden Körper 
einnisten und durch ihre blutsaugerische Tätigkeit mit 
der Zeit Siechtum und Tod herbeiführen. 
Die gewöhnliche Manipulation dieser Parasiten der 
Industrie ist die, daß sie diesem oder jenem Anfänger 
Werkzeugmaschinen oder dergleichen auf Kredit offerieren 
und ihn so veranlassen, gegen gewiße Abschlagszahlungen 
sich Maschinen anzuschaffen, die er nach dem Stande 
seines Geschäftes jedenfalls erst später gebrauchen würde. 
In der Regel werden diese Abschlagszahlungen in drei 
oder sechs Monatsakzepten geleistet und der kredit¬ 
gebende Menschenfreund behält sich das Eigentumsrecht 
an den gelieferten Maschinen für so lange vor, bis der 
letzte Heller bezahlt ist. 
In den meisten dieser Fälle nun ist die natürliche 
Konsequenz die, daß der kreditnehmende Industrielle 
seine Fabrikation mit Hilfe der neuen Maschinen zu sehr 
ausdehnt und so in ein gewisses Mißverhältnis zu dem 
möglichen Absatz seiner Produkte bringt, in ein Mi߬ 
verhältnis, welches er nur dadurch auszugleichen hoffen 
kann, daß er sich seinerzeit ebenfalls auf umfangreiches 
Kreditgewähren einläßt. Damit begibt er sich aber auf 
die schiefe Ebene, welche in der Regel zum Bankerott 
führt, welch letzteren zu beantragen dann der menschen¬ 
freundliche Maschinenfabrikant nicht versäumen wird, 
sobald er so viel Abschlagszahlungen von seinem Opfer 
erhalten hat, als ihm genügend erscheinen, um sie als ein 
„gutes Geschäft für sich zu betrachten; denn da nach 
Abkommen die gelieferten Maschinen solange sein Eigen¬ 
tum sind, bis sie vollständig bezahlt, so nimmt er im 
schlimmsten Falle seine Maschinen zurück und die be¬ 
reits empfangenen Abschlagszahlungen gehören auch ihm. 
Auf diese Weise sind schon Hunderte sonst ehrliche und 
fleißige Existenzen zugrunde gerichtet und den Reihen 
der Unzufriedenen, der Verbitterten und dem — Ver¬ 
brechertum überliefert worden. 
Oft machen diese Schmarotzer der Industrie es auch 
so, daß, wenn sie erfahren, daß irgendwo ein tüchtiger 
Arbeiter ist, der sich etwas erspart hat, sie denselben 
veranlassen, sich selbständig zu machen, ihm die Lieferung 
der ersten Einrichtung auf Kredit, sowie das kulanteste 
Entgegenkommen in jeder Hinsicht versprechen. Geht 
der betreffende Arbeiter in die ihm so gestellte Falle, so 
ist in 9 unter 10 Fällen in kurzer Zeit sein Bankerott 
offizielle Tatsache; das was er sich in Jahren durch 
harte Arbeit und Genügsamkeit erspart, ist verloren und 
der menschenfreundliche Lieferant, der ihn zur Selbst¬ 
ständigkeit verführt, lacht sich in die Faust, denn als 
Hauptgläubiger fällt ihm das fallite Geschäft zu, das er 
dann wieder an einen anderen verkauft, nachdem er 
vom ersten Opfer so und soviel an barem Geld bezogen 
hatte. 
Ich denke, so mancher Industrielle kann hievon ein 
Lied singen und nur die Richtigkeit meiner Angaben be¬ 
stätigen. Daß hier die Gesetzgebung noch ein weites 
Feld zum Eingreifen hat, liegt auf der Hand. Aber auch 
die Industriellen selbst müssen die nötigen Schritte tun, 
um dieses Schmarotzertum unmöglich zu machen. Gibt 
es sogenannte schwarze Listen, in welchen schlechte 
Zahler an den Pranger gestellt ^werden, warum soll es 
nicht auch solche schwarze Listen geben, in welchen die 
Blutsauger und Wucherer der Industrie gekennzeichnet 
werden? 
Die Hauptsache aber bleibt freilich immer die, daß 
man die Augen offen hält und den Verstand gebrauche. 
Trau, schau, wem? J. G. 
Das Unterrichtssystem in unseren kunst¬ 
gewerblichen Lehranstalten. 
Unter obigem Titel erhalten wir von einem hiesigen 
Professor nachstehenden interessanten Artikel: 
Von Zeit zu Zeit treten einzelne erfreuliche kunst¬ 
gewerbliche Arbeiten bei uns an die Öffentlichkeit, ohne 
daß dieselben jedoch als Beweis für die ausgedehnte 
Beschäftigung der Kunstindustrie zu gelten haben. 
Im Gegenteil, es macht sich eine auffallende Stille 
geltend, wie überhaupt ein Nachlassen in der früheren 
so frohen Begeisterung und — in der Leistungsfähigkeit 1 
Seit einer Reihe von Jahren ist kein Fortschritt zu be¬ 
merken, und das ist umsomehr zu bedauern, als das 
Ausland eine gewisse Rührigkeit entfaltet und durch 
seine Ausstellungen eine ungemeine Anziehungskraft 
stets ausübt. Es hieße einfach die Rolle des Vogel 
Strauß spielen, wollte man die vortreffliche Leistungs¬ 
fähigkeit der Kunstindustrie, die namentlich in der letzten 
Pariser Weltausstellung zur Schau gestellt war, nicht 
vollends würdigen. 
Unsere kunstgewerblichen Museen verfolgen mehr 
und mehr rein kunstgeschichtliche, um nicht zu sagen
	        
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