Volltext: VIII. Jahrgang, 1903 (VIII. JG., 1903)

Seite 60. 
OBERÖSTERREICHISCHE BAUZEITUNG. 
Nr. 8. 
investierten Kapitalien zu entwerten. Bei neuen Bahnen 
lassen es wohl die obigen Auseinandersetzungen ge¬ 
boten erscheinen, bei Festsetzung der Betriebsart stets 
auch die elektrische Traktion in die Kalkulation ein¬ 
zubeziehen und deren Anwendungsfähigkeit für den 
gerade vorliegenden Fall zu prüfen. 
Ganz besonders scheint uns dies der Fall zu sein 
bei den eben in Oesterreich im Bau befindlichen Alpen¬ 
bahnen, denn es dürfte nicht sobald eine Bahnlinie 
geben, welche auf den ersten Blick eine derartige 
Eignung für den elektrischen Betrieb zeigt, wie die 
neuen Alpenbahnen. Es finden sich längs ihrer ganzen 
Trasse Wasserkräfte, welche — genaue Studien müssen 
dies noch erweisen -— ausreichende Betriebskraft für die 
ganze Bahn zu besitzen scheinen. F’ast die ganze Trasse 
der neuen Bahnen besitzt Gebirgscharakter, und gerade 
Bergbahnen mit Wasserkraftsbetrieb sind das lohnendste 
Arbeitsfeld für elektrische Traktion. Zu den früher all¬ 
gemein erörterten wirtschaftlichen Vorteilen der letzteren 
treten bei Bergbahnen noch zwei höchst wichtige 
Momente hinzu. Zunächst der Umstand, dass der Kohlen¬ 
verbrauch bei Bergbahnen naturgemäss ein ungleich 
grösserer ist als bei ebenen Bahnen. Beträgt beispiels¬ 
weise der Kohlenverbrauch auf der ebenen Südbahn¬ 
strecke Wien—Gloggnitz 98 Kilogramm für je 1000 
Brutto-Tonnenkilometer, so steigt der Verbrauch auf 
199 Kilogramm, wenn der Zug mit derselben Maschine 
die Semmeringbahn von Gloggnitz nach Mürzzuschlag 
befährt. Der Kohlenverbrauch ist also fast der doppelte 
in der Bergstrecke als in der Ebene, ein Umstand, der 
bei den neuen Alpenbahnen umsomehr ins Gewicht fällt, 
als dieselben zum grossen Teile ein kohlenarmes Land 
durchziehen, sich also in dieser Hinsicht in ähnlichen 
Verhältnissen befinden, welche die italienische Re¬ 
gierung zur Einführung des elektrischen Bahnbetriebes 
veranlasst haben. 
Der elektrischen Lokomotive kommt aber bei Berg¬ 
bahnen noch eine andere, merkwürdige Gabe zur Hilfe, 
welche sie befähigt, die beim Talabwärtsfahren durch 
das eigene Zugsgewicht entwickelte lebendige Kraft dazu 
zu benützen, um mit dieser Energie andere, bergaufwärts- 
fahrende Züge zu betreiben. Der hinunterfahrende Zug 
wird selbst zum Stromerzeuger und sendet seinen 
Strom durch die Fahrdrähte in die Motoren der berg¬ 
auffahrenden Züge. Jedermann kennt wohl die Kon¬ 
struktion von Aufzügen oder Seilbahnen, bei denen 
das Uebergewicht der hinuntergehenden Schale die 
zweite emporhebt. Was hier die Seil-, bewirkt dort die 
elektrische Uebertragung. Die Folge davon ist, dass bei 
solchen Bergbahnen, bei denen nach jeder Richtung 
mehrere Züge gleichzeitig verkehren, die für . die Berg¬ 
fahrt erforderliche Arbeit unvergleichlich geringer ausfällt, 
als beim Dampfbetrieb, bei dem die Energie des talab- 
fahrenden Zuges nutzlos und zum Schaden der Räder 
abgebremst wird. 
Von diesem Vorteil zu profitieren, ist das Längen¬ 
profil der Tauernbahn geradezu ideal geschaffen. Die 
Tauernbahn ist 77 Kilometer lang, ihr Längenprofil 
bildet ein gleichschenkeliges Dreieck, dessen beide Seiten 
die gleichmässige Steigung von 25 5 per Mille besitzen. 
Die erstiegenen Höhen betragen von Nord nach Süd 
633 Meter, von Süd nach Nord 672 Meter; es ist das 
Idealbeispiel einer Seilbahn, bei der anstatt des Seiles 
die Elektrizität die Ausbalanzierung vermittelt. Auch 
die anderen Strecken der Alpenbahnen, die Karawanken¬ 
bahn mit 35 Kilometer Länge, die Wocheiner Bahn mit 
89 Kilometer Länge, die Strecke Görz—Triest mit 55 Kilo¬ 
meter Länge haben Gebirgscharakter ähnlich der Sem¬ 
meringbahn. Insgesamt besitzen diese neuen iUpenbahnen 
eine Länge von 256 Kilometer — mit der Abzweigung 
Klagenfurt—Assling 286 Kilometer — und haben in der 
Richtung von Nord nach Süd ein Gesamtgefälle von 
1418, in der Richtung von Süd nach Nord ein solches 
von 1825 Kilometer zu überwinden. 
Es unterliegt nach dem früher Gesagten keinerlei 
Schwierigkeiten, für den Betrieb der neuen Alpenbahnen 
elektrische Lokomotiven zu konstruieren, welche die 
schwersten verlangten Züge zu befördern in der Lage 
sind, also etwa Schnellzüge, die 150 Tonnen Bruttolast 
bei 25 per Mille Steigung mit 45 Kilometer Geschwindig¬ 
keit, oder Güterzüge, die 500 Tonnen Bruttolast bei 
derselben Steigung mit 20 Kilometer per Stunde ziehen 
können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Alpen¬ 
bahnen neben mehreren kürzeren auch die drei grossen 
Tunnels mit 8*5, 8 und 6*2 Kilometern Länge besitzen, 
bei deren Durchfahren der Rauch, welcher eine Plage 
für den Reisenden und eine Gefahr für das Zugspersonal 
bildet, entfallen würde. Man half sich in den letzten 
Jahren gegen den Rauch in langen Tunnels durch 
künstliche Entlüftung mittelst Ventilatoren (Gotthard¬ 
tunnel) oder durch — bloss für den Tunnel gemachte 
— elektrische Traktion (Baltimore-Ohio-Bahn). Beides 
bedingt ziemlich kostspielige Anlage und Betrieb. Bei 
der Traktion im Arlbergtunnel hat sich die österreichische 
Staatseisenbahn-Verwaltung in einfacherer Weise ge¬ 
holfen, indem dort die Lokomotiven seit einigen Jahren 
mit Petroleumrückständen geheizt werden, was aber 
ebenfalls den Betrieb nicht unwesentlich verteuert. All 
das käme in Wegfall, wenn für die ganze neue Linie 
der elektrische Betrieb gewählt wird. • 
Um die neue Bahnlinie kontinuierlich in einer 
-Strecke elektrisch zu betreiben, müsste auch das da¬ 
zwischenliegende Stück der Südbahn Möllbrücken—Spittal 
mit einer Länge von 44 Kilometer in den elektrischen 
Betrieb miteinbezogen werden; dann wäre es möglich, 
vom nördlichsten Endpunkte der Tauernbahn, das ist 
von der Station Schwarzach, über Gastein, Villach und 
Görz bis Triest mit elektrischen Zügen zu fahren. Zweifel¬ 
los würde dann auch der Touristen- und Lokalverkehr 
auf diesen schönen Bahnen ungemein gewinnen, weil es 
beim elektrischen Betrieb viel leichter möglich ist, den 
Fahrplan dem Geschmacke des Publikums anzupassen 
und mehr Züge verkehren zu lassen, als beim Dampf¬ 
betrieb. 
Es ist uns nicht bekannt, ob das Eisenbahn- 
Ministerium Studien in der angedeuteten Richtung ge¬ 
pflogen hat, wozu allerdings bisher nicht genügende 
Veranlassung vorlag, weil die technische Lösung einer 
elektrischen Traktion auf Hauptbahnen erst neuesten 
Datums ist. Immerhin scheint es, als ob die geänderten 
Verhältnisse ein solches Studium für gerechtfertigt und 
es nicht als unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass 
•der elektrische Betrieb sich auf unseren neuen Alpen¬ 
bahnen nicht nur im Hinblick auf das reisende Publikum 
als der vorteilhaftere herausstellt, sondern auch in 
ökonomischer Beziehung dem Dampfbetrieb überlegen 
ist. Einer allfälligen Ueberschreitung der Anlagekosten 
könnte bei Nichtbewilligung derselben durch das 
Parlament, voraussichtlich dadurch abgeholfen werden, 
dass eine Gesellschaft die Erbauung der Wasserkraft-
	        
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