Volltext: VIII. Jahrgang, 1903 (VIII. JG., 1903)

Nr. 4. 
ÖBERÖSTERREICHISCHE BAUZEITUNG. 
Seite 28. 
strecke Wien-Semmering gleichkommt. Im Sommer nimmt 
dort der Reiseverkehr mächtige Dimensionen an, die Eil- 
züge von Mailand zum Komosee und in die Schweiz sind 
dann überfüllt und erfordern grosse Zugseinheiten für 
Personen und Gepäck. Auch der Lastenverkehr auf der 
Strecke ist nicht unbedeutend, weil die dortige Gegend 
grossen Export an Früchten und Weinen nach der 
Schweiz unterhält und überdies längs der ganzen Strecke 
zahlreiche Fabriken, zumeist Spinnereien und Webereien 
im Betrieb stehen. 
Es handelte sich also hier darum, mittelst des elek¬ 
trischen Betriebes einen regelmässigen Vollbahnverkehr 
abzuwickeln, welcher im Sommer die Erfordernisse einer 
Hauptbahn besitzt. Die Steigungs- und Richtungs¬ 
verhältnisse der ganzen Bahnstrecke sind die denkbar 
ungünstigsten, fortwährend wechseln Steigungen und 
Gefälle, und fünf Kilometer haben die bedeutende 
Steigung von 22 per Mille, also beinahe so viel, als die 
Semmering- oder die neue Tauernbahn, welche 25*5 per 
Mille nicht überschreiten. Der grössere Teil der Strecke hat 
echten Gebirgscharakter mit fortwährenden Krümmungen 
und zahlreichen, im ganzen 32 Tunnels, welche, nament¬ 
lich im Sommer, die Fahrt durch Rauch und Russ der¬ 
art unerträglich machen, dass häufig von Reisenden die 
Fahrt über den Komosee der Eisenbahn vorgezogen wurde. 
Nachdem die Versuchsstrecken derart bestimmt 
waren, schritten die beiden Gesellschaften zur Aus¬ 
führung und standen nun vor der wichtigen Frage, 
welches System der elektrischen Traktion sie wählen 
sollten. Zu dieser Zeit — es war das Jahr 1898 — hatte 
wohl der elektrische Strassenbahnbetrieb bereits die Welt 
erobert, auch Lokal- und Vorortebahnen waren mit dieser 
Betriebsart ausgestattet, aber auf Hauptbahnen war die 
elektrische Traktion nur auf einigen Stadtbahnen 
(Chicago, London) ausgeführt worden .und zwar nach 
demselben System, welches sich für Strassenbahnen be¬ 
währt hatte. Die Verhältnisse liegen jedoch beim Voll¬ 
bahnbetrieb ungleich schwieriger als beim Strassenbahn- 
betriebe. Wenn es sich bei letzterem um Distanzen von 
etwa 20 Kilometern und ein Krafterfordernis von 20 bis 
.30 Pferdekräften per Zug handelt, muss beim Vollbahn¬ 
betrieb naturgemäss mit Entfernungen von mehreren 
hundert Kilometern und mit gewaltigen Kräften ge¬ 
rechnet werden, die beim Anfahren schwerer Züge in 
Steigungen oder bei hohen Geschwindigkeiten 1500 Pferde¬ 
kräfte übersteigen können. 
Wohl ist es beim elektrischen Betrieb — oft zum 
grossen Vorteile für die Einnahmen — möglich, die 
schweren Zugseinheiten durch mehrere leichtere Züge 
zu ersetzen und den Zugsverkehr auch bei Hauptbahnen 
hiedurch tramwayartig zu entwickeln. Trotzdem muss, 
wenn es den Ersatz des heutigen Dampfbetriebes durch 
den elektrischen Betrieb gilt, mit der Beförderung der 
schweren internationalen Eilziige und der langen 
Güterzüge gerechnet werden, das heisst, die elek¬ 
trischen Lokomotiven müssen den Dampflokomotiven 
an Leistung nachkommen. Diesen schwierigen Bedin¬ 
gungen kann das für elektrische Strassenbahnen übliche 
System, welches bekanntlich Gleichströme von 500 Volt 
Spannung benützt, auch bei Verwendung von Umformer¬ 
stationen (wie solche z. B. bei den Wiener städtischen 
Elektrizitätswerken in Verwendung sind) nur schwer 
gerecht werden. Technisch wäre dies wohl möglich, 
aber es verbietet sich die Anwendung durch die ausser¬ 
ordentliche Höhe der Anlage- und Betriebskosten. 
Immerhin war dieses System in Amerika bei Stadt” 
bahnen erprobt und deshalb entschloss sich die eine der 
beiden Gesellschaften, und zwar die Meredionalbahn, 
dasselbe bei ihrer Versuchsstrecke Mailand-Porto Ceresio 
einzuführen. Sie beauftragte mit der Durchführung die 
amerikanische Thomson- Houston -Komp. Der 
Personenverkehr geschieht ausschliesslich elektrisch durch 
Motorwagen, welche gewöhnlich einen, bei starkem 
Verkehre auch mehrere Personenwagen mitschleppen 
und auf der ebenen Strecke mit 80 bis 90 Kilometer 
Geschwindigkeit verkehren. Die Züge laufen von Mailand 
in zumeist halbstündigen Intervallen. Der Verkehr ist dem¬ 
nach in gewissem Sinne tramwayartig ausgebildet. Durch¬ 
gehende Züge verkehren nicht und der Güterverkehr wird 
noch mit Dampf besorgt. Bau- oder Betriebskosten für 
diesen Versuch sind nicht bekannt geworden. 
Angesichts der Schwierigkeiten, welche die An¬ 
wendung des Gleichstromsystemes aus wirtschaftlichen 
Rücksichten beim Vollbahnbetrieb verursacht, war die 
Idee naheliegend, den Dreh ström, welcher seit dem 
Jahre 1891, seit der denkwürdigen Kraftübertragung 
Frankfurt-Laufen auf 180 Kilometer, das Feld der Kraft¬ 
übertragung auf grosse Distanzen souverän beherrscht, 
auch für den Bahnbetrieb heranzuziehen. Man hätte dies 
schon früher getan, aber es boten sich konstruktive 
Schwierigkeiten. Die erste derartige Drehstrombahn, die 
Linie Burgdorf—Thun (46 Kilometer) in der Schweiz, 
wurde im Jahre 1899 von der Schweizer Firma Brown, 
Boveri & Komp, fertiggestellt, aber die dort angewendete 
Spannung war zu gering, als dass damit die Erfordernisse 
einer Hauptbahn hätten befriedigt werden können. 
Bereits im Jahre 1897 war der Ingenieur v. Kandö 
der Firma Ganz & Komp, mit dem Projekte hervor¬ 
getreten, elektrische Vollbahnen zu bauen, bei denen 
die Fahrdrähte hochgespannten Drehstrom führen und 
der Betrieb der Lokomotiven mittelst Drehstrommotoren 
von hoher Spannung geschieht. Dieses System war 
theoretisch — so viel stand von allem Anfänge fest — 
befähigt, auch den schwersten Anforderungen des Dienstes 
einer elektrischen Hauptbahn zu entsprechen, doch es war 
noch nicht erprobt und es war immerhin möglich, dass 
die Schwierigkeiten in der praktischen Ausführung die Er¬ 
füllung der theoretischen Verheissungen vereiteln könnten. 
Gelang es jedoch, die vielen, überaus schwierigen Detail- 
Konstruktionen befriedigend zu lösen, was eben ein Ver¬ 
such beweisen musste, so wrar damit die technische 
Seite des elektrischen Vollbahnbetriebes gelöst. 
Die Rete Adriatica entschloss sich, in Ueber- 
einstimmung mit der königlichen General-Inspektion der 
italienischen Eisenbahnen für ihre Versuchsstrecke dieses 
System anzuwenden. Beinahe hätten aber Schwierigkeiten, 
die aus dem Vertragsverhältnisse zwischen der Rete Adriatica 
und der italienischen Regierung entsprangen, die Reali¬ 
sierung des Versuches zunichte gemacht. 
Die Valtelinabahn ist nämlich Eigentum des italienischen 
Staates und wird von der Rete Adriatica betrieben. Laut 
dem bestehenden Vertrage hat der Staat die Kosten für 
Neu-Investitionen zu bestreiten. Im Hinblick auf das 
nahende Ende des Betriebsvertrages (1905) mochte die 
Rete Adriatica die mehr als sechs Millionen Lire be¬ 
tragenden Versuchskosten nicht auf sich nehmen, 
während der Staat mit Rücksicht auf die Neuartigkeit 
des Systems die Umwandlungskosten nur im Falle des 
Gelingens zu zahlen bereit war. Sehr gelegen kam da¬ 
her die Intervention einer, zumeist mit italienischem
	        
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