Volltext: V. Jahrgang, 1900 (V. JG., 1900)

Nr. 9. 
ÖBERÖSTERREICHISCHE BAUZEITUNG. 
Seite 67. 
Die Bauarbeiten am Simplontunnel. 
Die Bauarbeiten am Simplontunnel werden im all¬ 
gemeinen, wohl weil Tunneldurchstiche nichts Neues 
mehr sind, mit weit weniger Interesse verfolgt als seiner¬ 
zeit die Arbeiten des Gottharddurchstiches. Und doch 
handelt es sich bei ihm um durchaus eigenartige Arbeits¬ 
methoden und Schwierigkeiten, wie sie in dem Masse 
beim Gotthardtunnel nicht auftraten. Um nur eines 
herauszugreifen, wird beispielsweise die Temperatur in 
der Mitte des Simplontunnels auf etwa 42 Grad berechnet, 
während das Thermometer beim Gotthardbau seinen 
höchsten Stand bei 308 Grad erreichte. Der Simplon¬ 
tunnel wird mit fast 20 Kilometer Länge (genau 19*738 
Kilometer) der längste der Welt sein (Gotthardtunnel 
14*984 Kilometer) und liegt mit seiner grössten Tiefe 
2140 Meter unter der Erdoberfläche. Der Bau würde mit 
den Mitteln, die beim Gotthardtunnel zur Anwendung 
gelangten, gar nicht durchführbar sein. Man hat sich 
deshalb zur Anwendung eines neuen Systems entschlossen, 
das in der Anlage eines Doppeltunnels besteht, dessen 
beide Gänge in einem Abstande von 17 Meter parallel 
laufen und in Zwischenräumen von je 200 Meter‘durch 
Querschläge untereinander in Verbindung stehen. Um die 
Arbeiten trotz der in dei - litte des Tunnels zu erwartenden 
Hitze zu ermöglichen, musste das Wasser der Rhone zur 
Hilfeleistung herangezogen werden. Mächtige Röhren von 
1*6 Meter Durchmesser leiten auf eine Entfernung von 
mehreren Kilometern das Wasser der Rhone herbei, das 
sich mit einem Gefälle von 45 Meter in den Tunnel er- 
giesst, die Temperatur abkühlt und gleichzeitig, unter 
Entfaltung einer Wasserkraft von über 1000 Pferde¬ 
kräften, zum Betriebe der Bohrmaschinen verwandt 
werden kann. Niemals vorher ist. in einem Tunnel mit 
grösserer Hast und unter Aufbietung grösseren mensch¬ 
lichen Scharfsinns gearbeitet worden als am Simplon. 
Die den Bau ausführende Firma Brand, Brand au & Oie. 
hat sich verpflichten müssen, das Werk, das heisst den 
Haupttunnel, binnen fünf Jahren und sechs Monaten 
fertigzustellen. Für jeden Tag Versäumnis ist eine 
Vertragsstrafe von 5000 Francs vorgesehen; dagegen er¬ 
hält die Firma für jeden Tag, den sie weniger benöthigt, 
die gleiche Summe gezahlt. 
Der Tunnel beginnt bei Brig und endet bei Domo 
d’Ossola. Nach Norden zu zeigt er eine leichte Krümmung, 
läuft dann aber bis zum südlichen Ausgang in schnur¬ 
gerader Richtung. In der Mitte liegt das Geleise inner¬ 
halb einer Strecke von 500 Meter völlig wagerecht, nach 
Norden zu neigt es sich um 2°/oo, nach Süden um 7°/oo, 
so dass , der Ausgang bei Domo d’Ossola 50 Meter tiefer 
als der Eingang bei Brig zu liegen kommt. Bis jetzt ist 
man im Haupttunnel — der Nebentunnel bleibt immer 
einige hundert Meter zurück — um etwa 120 Meter vor¬ 
gedrungen. Und zwar auf folgende Weise, in einer Breite 
von drei und einer Höhe von zwei Meter wird ein Sohlen¬ 
stollen vorgetrieben, dem in einem Abstande von 200 Meter 
die Hauptarbeiten, das heisst die Erweiterung des Tunnels 
zum vollen Profil und auch gleichzeitig seine Ausmauerung 
folgen. Im Sohlenstollen stehen „vor Ort“ die bekannten, 
jedoch vielfach verbesserten Bohrmaschinen, die un¬ 
geheure Stahlbohrer von mehreren Metern Länge führen, 
die imstande sind, gleichzeitig zwei bis drei über zwei 
Meter tiefe, acht Centimeter Durchmesser haltende Löcher 
in das zum grössten Theile aus Gneis bestehende Gestein 
zu bohren. Sind sechs bis neun solcher Bohrlöcher .fertig¬ 
gestellt — eine Arbeit, deren Dauer von der Härte des 
Gesteins abhängig ist und die unter Umständen bis zu fünf 
Stunden Zeit in Anspruch nehmen kann —, so werden 
die auf Schienen ruhenden, hydraulisch betriebenen 
Perforiermaschinen zurückgenommen und die Bohrlöcher 
mit Sprenggelatine gefüllt. Die Sprenggelatine, der stärkste 
der augenblicklich bekannten Sprengstoffe, wird aus einer 
Mischung von Nitroglycerin (92 bis 97°/o) und Oollodium- 
wolle gewonnen, indem beide Stoffe unter mässiger Er¬ 
wärmung so lange umgerührt werden, bis eine teigartige 
Masse entsteht. Für jedes Bohrloch braucht man sechs 
bis zehn Kilo Sprenggelatine, welche per Kilo 2*40 Francs 
kostet. Die Entzündung der eingeführten Sprengpatronen 
erfolgt nicht auf elektrischem Wege, weil durch die gleich¬ 
zeitigen Explosionen ein guter Theil der Kraft sich gegen¬ 
seitig Aufheben würde. Man bedient sich vielmehr einer 
Zündschnur, die mit Guttapercha umwickelt ist und 
ein auffliegen der Minen nacheinander gestattet. Durch 
die ausserordentliche Kraft der' Gelatine wird das Ge¬ 
stein fast zu Schutt zertrümmert und ein weites Umher¬ 
fliegen der losgelösten Masse vermieden. Ist der letzte 
Schuss gefallen, so tritt zur Wegräumung des Gerölles 
eine ganz neue Maschine, eine Art Wasserkanone, in 
Thätigkeit, die aus Stahlrohren, unter einem ungeheuren 
Drucke, mächtige Wassermengen gegen das losgelöste 
Gestein schleudert und dieses auf eine weite Strecke auf 
eine Seite des Tunnels hinüberspült. So können, während 
der auf der Seite liegende Schutt eilig verladen und 
hinausgefahren wird, die Bohrmaschinen unverzüglich 
wieder „vor Ort“ genommen werden und sofort eine zweite 
Attake beginnen. Die Erweiterungsarbeiten an dem 
200 Meter rückwärts liegenden Hauptstollen werden in¬ 
dessen ununterbrochen durch Nachschiessen fortgesetzt. 
Doch treten hier keine Bohrmaschinen in Verwendung; 
die Löcher werden mit der Hand gebohrt und weisen 
nur einen Durchmesser von 2*5 Centimeter auf. So dringt 
man täglich fünf bis sieben Meter tief in den Bergriesen 
ein, und man kann sieh leicht ausrechnen, dass die Firma 
Brand, Brandau & Cie. ihre. Aufgabe in der vorge¬ 
schriebenen Zeit lösen wird, wenn nicht unvorhergesehene 
böse Zufälle eintreten, die bei soLehen gewaltigen Unter¬ 
nehmungen niemals ausgeschlossen sind. Man ist deshalb 
fortwährend darauf bedacht, die Arbeiten noch mehr zu 
beschleunigen, noch kräftigere Sprengmittel zu erdenken 
u. s. w. So arbeitet man z. B. im Tunnel nur mit den 
uralten offenen Bergmannslampen, weil geschlossene 
Lampen einen Dunstkreis erzeugen und das Gestein nicht 
hell genug beleuchten würden. Die Baugesellschaft ist 
zwar vertraglich gebunden, die Sprenggelatine sowie alle 
Nitroglycerin-Präparate von einer schweizerischen Dynamit¬ 
gesellschaft zu beziehen, die in Gamsen besonders zu 
diesem Zwecke eine Fabrik errichtet hat; in Bezug auf 
andere Sprengstoffe hat sie jedoch freie Hand. Darauf 
fussend hat der Münchener Professor Linde, der berühmte 
Erzeuger der flüssigen Luft, der Simplongesellschaft 
Präparate seiner Erfindung angeboten, welche die Spreng¬ 
gelatine an Sprengkraft noch übertreffen oder ihr min¬ 
destens gleichkommen sollen, nebenbei aber den Vorzug 
grosser Billigkeit besitzen. Leider scheinen die Ver¬ 
bindungen, in die man flüssige Luft mit anderen Körpern 
gebracht hat, so. explosionsgefährlich zu sein, dass an 
ihre Verwendung bei offenem Grubenlichte vorläufig nicht 
zu denken ist. Professor Linde hat deshalb bei Brig ein 
Laboratorium errichtet und arbeitet unausgesetzt an dem 
Problem, eine neue ungefährliche Mischung zu finden. Man
	        
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