Volltext: IX. Jahrgang, 1904 (IX. JG., 1904)

Seite 146. 
Oberösterreichische Bauzeitung. 
Nr. 19. 
richtet wird, den Menschen ihr tägliches Brot zu geben. 
Myosotis und Masslieben umduften den englischen Gruss 
und die Litaneien. Jede Bitte zu Gott bringt ihm einen 
Korb mit Früchten oder eine Blumengabe; ländliche 
Opfer, wie sie schon auf den urältesten Altären gestanden 
haben mögen. Vögel und Falter fliegen und flattern in 
diesen Zaubergärten. Der Pfau breitet sein schillerndes 
Rad aus unter der Mondsichel, auf welcher die heilige 
Jungfrau steht; die Biene saugt an der Blume einer 
Initiale, die Fliege lässt sich njeder auf einen Vers, 
dessen Zeilen durch ihre Flügel schimmern; die Heu¬ 
schrecke erklettert eine Lilie oder nagt an einer Korn¬ 
ähre; der Schmetterling gaukelt um die Rose; sogar die 
Wespe lässt ihr Gesumme hören, das klingt wie ferne 
Gesänge des Hochamtes. Es ist, als wären dem Pinsel 
des Illuminators jene Ambratropfen entflossen, welche 
die beschwingten Geschöpfe, im Fluge sie treffend, fest- 
halten und ihrem luftigen Dasein ewige Dauer geben. 
Das war das goldene Alter der Ornamentik in den 
neueren Zeiten, das war ihre reinste Entfaltung/ — Die 
Renaissance veredelt und erweitert in ihrer Weise dieses 
fruchtbare Gebiet, aber sie beschneidet auch den wuchern¬ 
den Ueberfluss, mit kunstgelehrter Hand pfropft sie 
darauf die Typen der Antike, erfindet aber auch neue 
Typen von wunderbarer Schönheit. Die Gestalten der 
alten Götterwelt drängen sich herein in die Windungen 
des Laubwerks, in die Zieraten der Pflanzenformen, 
Basreliefs umrahmen die Fläche der Kartuschen, Büsten 
überragen sie. Es ist der Stil des Altertums, aber in 
verjüngtem, von heiterer Anmut umlachten Leben. 
Im 17. Jahrhundert erlahmt das Ornament unter dem 
Schnörkelschwall übermässigen Prunkes; die Umrisse 
werden aufgetrieben; die Linien gewaltsam; allerlei Un¬ 
kraut von Zierat überläuft es von allen Seiten. — Die 
grosse Staatsperücke Louis XIV. scheint in leib¬ 
haftiger Gestalt an den Giebeln der Bauwerke hernieder 
zu wallen. 
Die Ornamentik des 18. Jahrhunderts treibt die Ver¬ 
schwendung im Ornamentenschmuck noch weiter: die 
Muschel überwächst und überwuchert alles und jedes- 
Zugleich aber wissen sie doch eine gewisse leichte, 
heitere Grazie, einen Hauch von ganz eigentümlicher 
launischer und doch durchdachter Formenspielerei in 
ihre Schöpfungen zu legen, besonders ein Zusammen¬ 
stimmen der Wohnräume mit deren ganzer innerer Aus¬ 
stattung hervorzubringen, so dass ihrer dekorativen Kunst 
ein feenhafter poetischer Zauber innewohnt. Der Rokoko- 
stil wird jederzeit eine der originellsten und reizendsten 
Formen des französischen „Esprit“ bleiben. 
. . d r. 
Verkehrsgeschwindigkeiten zu Lande 
einst und jetzt. 
Von Regie rungsrat M. Beitel. 
II. 
Die Erhöhung der Reisegeschwindigkeit hat ausser 
den bereits erwähnten Vorteilen noch den der grösseren 
Billigkeit im Gefolge gehabt. Nach Jules Roches beliefen 
sich die Kosten für 1 Kilometer für jeden Reisenden 
zwischen Paris und Calais auf 
0-088 Mark 
im 
Jahre 
1692 
0-160 „ 
V 
1786 
0-104 „ 
V 
1814 
0-152 „ ' 
n 
1834 
1. Klasse 0*0881 
2. „ 0*064 „ „ „ 1900 
3. „ 0*0401 
Unsere Uebersicht über die Verkehrsgeschwindig¬ 
keiten würde unvollkommen sein, wenn wir in derselben 
nicht auch kurz der neuesten Verkehrsmittel, des Fahr¬ 
rades und des Automobils, gedenken würden. Man kann 
annehmen, dass auf guten und ebenen Chausseen das 
Zweirad, gesunde und jugendliche Kräfte des Fahrers 
vorausgesetzt, 20 Kilometer in der Stunde, also vier- bis 
fünfmal soviel wie ein Fussgänger zurücklegt; bei län¬ 
gerer Dauer darf man aber nur 12 bis 15 Kilometer pro 
Stunde annehmen. 
Gelegentlich der Wettfahrten sind diese Leistungen 
wesentlich übertroffen, und zwar infolge der Einführung 
des Institutes der Schrittmacher; eine weitere Steigerung 
erfuhren die Leistungen, als man dazu überging, Motor¬ 
räder als Schrittmacher zu benutzen. Derartige Parforce- 
leistungen, von denen wir nur die des Amerikaners 
Michael mit 73*469 Kilometer erwähnen, haben für die 
praktischen Verkehrsbedürfnisse keinen Wert. 
Bei den Motorwagen liegen die Grenzen der erreich¬ 
baren Geschwindigkeit ebenfalls bereits ausserordentlich 
hoch. So erreichen die Rennwagen mit Daimler-Motor 
von 28 Pferdestärken eine Geschwindigkeit von 95 Kilo¬ 
meter. Bei den den Austrag einer Wette bezweckenden 
Fahrten der beiden Amerikaner Keene und Vanderbilt 
erreichte ersterer eine sekundliche Geschwindigkeit von 
27*6 Meter, letzterer von 27*13 Meter, was einer Ge¬ 
schwindigkeit von 99*36 Kilometer in der Stunde ent¬ 
spricht und der Geschwindigkeit der schnellsten Eisen¬ 
bahnzüge Europas gleichkommen würde. 
Nachdem wir uns vorstehend mit einigen für unsere 
Verkehrs Verhältnisse wesentlichen Geschwindigkeiten be¬ 
fasst haben, liegt die Frage sehr nahe: Welches ist die 
äusserste uns bekannte Geschwindigkeit? Das von uns 
mehrfach zitierte Buch Olshausens gibt als die grösste 
bekannte Körpergeschwindigkeit die der auf der Sonne 
ausgeschleuderten Gasmassen, der Sonnenprotuberanzen, 
an, dieselbe beträgt 842.000 Meter in der Sekunde. Noch 
grösser, an der äussersten Grenze der bekannten Ge¬ 
schwindigkeit stehend, ist die Geschwindigkeit des Lichtes 
und der Elektrizität, die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
der Aetherwellen mit 300,000.000 Meter in der Sekunde. 
In Laienkreisen ist man allzu häufig geneigt, die Er¬ 
zielung hoher Geschwindigkeiten der Fahrzeuge als die 
alleinige Bedingung für die Erhöhung unserer Reise¬ 
geschwindigkeit anzusehen. Dies ist aber nur in be¬ 
schränktem Masse der Fall. Die gelegentlich von Ver¬ 
suchsfahrten unter besonders günstigen Verhältnissen 
erzielten hohen Geschwindigkeiten sind nicht ohne 
weiteres auf die Verhältnisse des täglichen Verkehres 
zu übertragen. Hier sprechen noch zahlreiche andere 
Verhältnisse mit. In erster Linie verlangen die mit er¬ 
höhter Geschwindigkeit fahrenden Züge eine erhebliche 
Verstärkung des Oberbaues, d. i. des Geleises und des 
Bahnkörpers. Des weiteren müssen die zur Signalisierung 
der Züge dienenden Einrichtungen wesentlich modifiziert 
werden. Ferner erfordern die entfesselten Geschwindig¬ 
keiten und die hiedurch geweckte lebendige Kraft der 
bewegten Massen energisch und doch nicht allzu plötzlich 
wirkende Bremseinrichtungen. Auch die Bauart der 
Wagen erfordert im Hinblick auf die erhöhte Heftigkeit 
der während der Fahrt auftretenden Stösse eine sach- 
gemässe Umbildung. So ist denn das Mass des heutigen
	        
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