Volltext: IX. Jahrgang, 1904 (IX. JG., 1904)

Seite 140. 
Oberösterreichische Bauzeitung. 
Nr. 18. 
und den Freund fürs Narrenhaus reif erklären müsse. 
Ein glückliches Geschick hat es gefügt, dass die 
ersten Jahre des Eisenbahnwesens ernste Unglücksfälle 
nicht aufzuweisen hatten ; wäre dies geschehen, so würde 
das Misstrauen noch um ein erhebliches stärker geworden 
sein, als es ohnehin schon war. Allerdings hatte sich die 
mit der Fesselung des Titanen „Dampf“ verknüpfte Gefahr 
schon am Eröffnungstage der Eisenbahn Stockton—Dar¬ 
lington sehr energisch bemerkbar gemacht, indem Hus- 
kisson, Mitglied des Parlaments, von der Lokomotive 
überfahren und so schwer verletzt wurde, dass er alsbald 
in Liverpool starb, wohin ihn Stephenson persönlich mit 
der für damalige Verhältnisse ausserordentlichen Ge¬ 
schwindigkeit von 48 Kilometer in der Stunde auf der 
Lokomotive zurückgefahren hatte. Das erste grössere 
Eisenbahnunglück ereignete sich erst auf der französischen 
Station Belleville am 8. Mai 1842, wo infolge Zusammen- 
stosses zweier Züge 50 Menschen ihr Leben einbüssten. 
Wie durchschlagend der Erfolg der Eisenbahnen sich 
in der Erhöhung der Reisegeschwindigkeit geltend machte, 
ergibt sich aus der nachstehenden Zusammenstellung der 
zwischen Paris und Calais üblichen Reisegeschwindigkeit. 
Dieselbe betrug: 
im Jahre 1692 L6 Kilometer pro Stunde 
„ 1786 3*6 
„ 1814 6-8 
„ 1834 9*7 
„ 1900 90-8 
Das Interesse der gesamten, an der weiteren Aus¬ 
bildung unseres Verkehrswesens interessierten zivilisierten 
Welt ist nun neuerdings wieder durch die epoche¬ 
machenden Schnellfahrversuche der Studiengesellschaft 
für elektrische Schnellbahnen wach gerufen, nachdem 
diese bereits seit ihrem ersten Beginnen das Interesse 
der engeren Fachkreise in Anspruch genommen hatten. 
Wäre es in unserer prosaischen Gegenwart üblich, 
technischen Unternehmungen eine Devise zu geben, so 
hätte die Studiengesellschaft für elektrische Schnellbahnen 
sich keinen zutreffenderen Wahlspruch zulegen können, 
als den eingangs genannten der Stockton—Darlington- 
Eisenbahn. Was diese Gesellschaft an bahnbrechenden 
Erfolgen erreicht hat, das verdankt sie in erster Linie 
dem Wagemut, mit der die die Versuche ausführenden 
Ingenieure Leben und Gesundheit einsetzten: Periculum 
privatum utilitas publica! Zur Zeit hat die genannte 
Studiengesellschaft wegen vorgerückter Jahreszeit ihre 
Versuche vorläufig eingestellt; an deren Stelle sind aber 
nunmehr andere Probefahrten getreten, welche beweisen 
sollen, inwieweit die Dampflokomotive dem Rekord, den 
ihr ihre elektrische Schwester vorgelegt hat, nachzu¬ 
kommen vermag. Es dürfte daher von allgemeinem 
Interesse sein, sich einmal einige Geschwindigkeiten zu 
vergegenwärtigen, welche einen Vergleich zwischen dem 
Einst und Jetzt gestatten und uns einerseits einen Beweis 
dafür bieten, mit wie geringen Leistungen auf dem Gebiete 
der Geschwindigkeitserzeugung unsere Väter zufrieden 
waren, anderseits aber auch wiederum Leistungen auf¬ 
weisen, die wir nicht erwarten konnten und über die 
wir daher mit Recht erstaunen müssen. Wir entnehmen 
die nachstehend wiedergegebenen Angaben zum grösseren 
Teile einem unlängst erschienenen fesselnden Buche des 
Bauinspektors Olshausen in Hamburg: „Geschwindig¬ 
keiten in der organischen und unorganischen Welt“. 
Dasselbe, im Verlage von Boisen & Maasch in Hamburg 
erschienen, gibt eine staunenerregende Fülle von Angaben 
v> y> » 
v v r> 
V V V 
V 7) 7) 
der Geschwindigkeiten verschiedenster Art bei Menschen, 
Tieren, Pflanzen, Maschinen, Flüssigkeiten, Himmels¬ 
körpern, Naturkräften u. s. w. und verdient gerade in 
der Jetztzeit, der Zeit des Schnellverkehres und des 
Schnellbetriebes — ist doch das Prinzip der grössten 
Schnelligkeit auch auf den Betrieb der stehenden 
Maschinen übergegangen — die allgemeine Aufmerksam¬ 
keit. Wir beginnen mit einigen Angaben über Reise¬ 
geschwindigkeiten. 
Deutschland . . . 
Belgien 
Niederlande . . . 
Oesterreich-Ungarn 
Italien ..... 66*7 
Russland .... 6L3 
1900 
81J 
79-0 
74*8 
72*8 
1901 
82*7 Kilometer pro Stunde 
"^9'6 „ „ „ 
73-2 „ „ „ 
3^ 1 v n v 
61*5 
In den Vereinigten Staaten ist als schnellfahrender 
Zug der von Camden (vor Philadelphia) nach dem See¬ 
bade Atlantic City fahrende „Atlantic Flyer“ berühmt- 
dieser Zug fährt mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit 
von 107*4 Kilometer in der Stunde; dieselbe soll mit 
einer Maximalgeschwindigkeit auf offener Strecke von 
130 Kilometer pro Stunde erreicht werden. An sonstigen in 
Amerika ausgeführten Schnellfahrten nennt Olshausen nach 
der „Railroad Gazette“ und „Locomotive Engineering“ • 
Erie—Buffalo .... 148*5 Kilometer pro Stunde 
Skilmans—B. Meade . 158*5 „ „ „ 
Fleming — Jacksonville 192*0 „ „ „ 
Für die Atlantic-Type-Lokomotiven der Zentral-New- 
Jerseybahn ist von den Baldwinwerken in Piladelphia eine 
stündliche Geschwindigkeit von 145 Kilometer garantiert. 
Die längsten, ohne Aufenthalt durchlaufenen Strecken sind: 
In Deutschland: 
Hamburg—Wittenberge 159 Kilometer 
München—Nürnberg ...... 199 „ 
In Frankreich: 
Paris—Arras . 192 Kilometer 
Paris—St. Quentin 154 „ 
Dijon—Laroche 160 „ 
In England: 
London—Nottingham 203 Kilometer 
Crewe—Carlisle 225 „ 
London—Crewe . 253 „ 
Interessant sind die Konsequenzen, welche die Er¬ 
höhung der Fahrgeschwindigkeit infolge der durch sie 
bewirkten Abkürzung der Reisedauer gezeitigt hat. Picard 
berechnete die Ersparnis der Reisenden an Zeit für das 
Jahr 1883 für Frankreich auf 17 Millionen Tage zu 24 
Stunden oder auf 10 bis 11 Stunden pro Einwohner. 
Engel schätzt die aus der Beschleunigung des Personen¬ 
verkehres sich ergebende Ersparnis für die Zeit bis 1878 
für Deutschland auf 955 Millionen Mark. Freycinet, der 
bekannte aus dem Ingenieurstande hervorgegangene 
französische Minister, berechnete den tatsächlichen, das 
heisst den direkten und indirekten Vorteil einer Eisen¬ 
bahn für das Land auf das Vierfache der gesamten 
Bruttoeinnahme der Bahn. 
Der erheblichste Vorteil aber, den die Zunahme der 
Reisegeschwindigkeit uns gebracht hat, besteht darin, 
dass die Sicherheit für das Leben und die Gesundheit 
der Reisenden in hohem Masse vermehrt, indem die 
Statistik trotz aller grossen Eisenbahnunfalle unwider¬ 
leglich nachweist, dass im Verhältnisse zu den beförderten 
Personen und den zurückgelegten Strecken die Zahl der 
Verletzten und Getöteten stetig abgenommen hat.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.