Volltext: I. Jahrgang, 1896 (I. JG., 1896)

Nr. 4. 
OBERÖSTERREICHISCHE BAUZEITUNG. 
Seite 35. 
kann, erfordert dann, um die Arbeit nothgedrungen fort¬ 
zusetzen, den von Erregungsmittel, und bald wird die 
Benützung und der Gebrauch des Alkohols und des 
Tabaks ein unwiderstehliches Bedürfnis, welches zur 
Leidenschaft wird und in Uebermaß wie der Morphium¬ 
genuss ausartet. Man kann mit Recht behaupten, dass 
das Uebermaß von Arbeit und der Mangel eine der An¬ 
strengung gleichmässigen Ruhe die Hauptursachen der 
bösen Leidenschaften der Trunksucht, des Alkoholismus, 
der Laster sind, welche die Menschheit verheeren, ebenso 
wie der Hauptfacior der Neurasthenie und der physiologi¬ 
schen Misere, die in den Familien und in der Gesellschaft 
das Idiotenthum, die Epilepsie, die Hysterie, den Wahn¬ 
sinn und das Verbrecherthum, selbst die Gedanken der 
Anarchie, diese grosse politische Hysterie, fortpflanzen. 
Es scheint mir heute wohl bewiesen, dass die physische 
Arbeit, von der geistigen abhängt und dass nichts nütz¬ 
licher und kostbarer ist, als die Abwechselung und die 
Verschiedenheit der Beschäftigungen. Dies ist das beste 
Mittel, welches den verschiedenen nervösen und Gehirn¬ 
zellen gestattet, sich in vollständiger Arbeitskraft zu halten 
und welche uns zu dem vom Gesichtspunkte der socialen 
Physiologie so wichtigen Schluss führt, dass der Schlaf 
dem civilisierten Menschen nicht als Ruhe genügt, sondern 
dass es nothwendig, ja unerlässlich ist, dass der Mensch, 
wenn er die Vollkraft seiner geistigen, moralischen und 
physischen Fähigkeiten behalten und nicht entarten will, 
mit seinen Arbeiten wie mit seinen Vergnügungen ab¬ 
wechseln muss. Derjenige, welcher sich diesem Natur¬ 
gesetze entzieht, wird eine wirkliche Maschine und der 
Schlendrian tÖdtet in ihm alle Empfindungen und alle 
Fähigkeiten, welche für jeden die wahre Erhebung, d. h. 
die sociale Ordnung, erfordert.“ L. 
Kunst und Hygiene im Wohnhause. 
II. 
Wir schwärmen jetzt so viel für das Alterthümliche, 
für alte Bauwerke und die alten Style. Das Ideal unserer 
Poesie, auch der architektonischen, ist vielfach die Ritter¬ 
burg und das alte Bauernhaus oder das alte Patricier- 
haus, wie es sich die Geschlechter in Nürnberg, Augsburg 
oder Lübeck und Danzig vor mehreren Jahrhunderten 
gebaut haben. Und wie würden wir uns dazu stellen, 
wenn wir uns selbst wirklich in ein solches Bauwerk 
versetzt fänden, wenn wir länger als nur zu vorüber¬ 
gehendem Scherz darin leben sollten? Wie würden wir 
uns in den hochpoetischen Ritterburgen mit ihren un- 
verglasten Fenstern und den feuchten Wänden in den 
dumpfigen Bauernstuben oder den engen Gassen und 
hochgethürmten Häusern der alten Städte befinden? Was 
würden unsere modernen Dienstboten dazu sagen und 
wie würde unser ganzes Leben sich in dieser Scenerie 
abspielen können, wenn wir mehr als rein äusserliche 
Formen aus jenen Zeiten übernehmen wollten? Hat doch 
selbst am Berliner Königlichen Schloss, als dieses wieder 
für die Gegenwart zum Bewohnen hergerichtet werden 
sollte, trotzdem der betreffende Theil erst knapp 200 Jahre 
alt ist, ein sehr umfangreicher Neubau, der Millionen ge¬ 
kostet hat, vorgenommen werden müssen, blos um unserer 
modernen Anschauung über das Verhältnis der Diener¬ 
schaft zur Herrschaft, der veränderten Lebensweise unserer 
Fürsten Rechnung zu tragen. Als damals der Schlossbau 
entstand, war man gewöhnt, die Dienerschaft durchaus 
ausser Acht zu lassen, dieselbe war völlig unpersönlich, 
das gesammte Leben der Fürsten vollzog sich öffentlich, 
von dem feierlichen Aufstehen in Gegenwart des grossen 
oder kleinen Hofstaates bis zu dem Zubettgehen ebenfalls 
vor versammelter Hofgesellschaft. Infolge dessen war die 
Flucht der Staatswohnräume eine zusammenhängende, 
der Durchgang zu den dahinterliegenden Räumen nur 
durch die vorderen möglich. Die veränderten Lebensan¬ 
schauungen und Gewohnheiten machten den Anbau einer 
Gallerie nöthig, welche der Dienerschaft den Zugang zu 
den einzelnen Räumen von aussen ermöglichte. Ein anderes 
Beispiel: Als Friedrich der Grosse in Potsdam an den 
Hauptstrassen Fagaden des Palladio erstehen lassen wollte 
um der Stadt so das Aussehen einer Stadt von lauter 
Palästen zu geben, da ergaben sich für die Wohnhäuser, 
denen diese stylvollen Fagaden genau im ursprünglichen 
Maßstabe vorgeklebt wurden, ganz eigeiithümliche, wenig 
erfreuliche Folgen. 
Hinter den Palast-Fagaden mit ihren hohen Fenstern 
lagen nämlich die Wohnräume in den damals gebräuch¬ 
lichen Stockwerkshöhen. Infolge dessen traf es sich, dass 
die Bewohner des einen Stockwerks ihre Fenster nur auf 
der Leiter erreichen konnten, während die ändern sich 
auf den P^ussboden setzen mussten, um zum Fenster 
hinauszusehen. 
Aus alledem erhellt, dass wesentliche Umwälzungen 
sich nicht auf dem Gebiete der Kunstformen vollziehen, 
sondern durch veränderte Lebensbedingungen und An¬ 
sprüche herbeigeführt werden. Hier aber treten in neuerer 
Zeit die hygienischen Anforderungen immer mehr in den 
Vordergrund. Die ausserordentlichen Fortschritte, welche 
sämmtliche Disciplinen der Naturwissenschaften in diesem 
Jahrhundert und besonders in den letzten Jahrzehnten 
gemacht haben, haben uns eine Unmenge wissenschaft¬ 
licher Erkenntnis vermittelt, die uns zu einer völlig ver¬ 
änderten Auffassung der wichtigsten Lebensfragen führen 
musste. 
Aber mit der Erlangung der wissenschaftlichen Er¬ 
kenntnis ist es noch nicht gethan. Wie viele auf den 
modernen wissenschaftlichen Beobachtungen beruhende 
Einrichtungen und Anordnungen werden z. B. durch die 
über ihren Zweck und ihre Bedeutung unklare Diener¬ 
schaft in Unordnung gebracht, falsch angewendet oder 
gar ins Gegentheil verkehrt. Es muss eben erst die 
wissenschaftliche Erkenntnis übersetzt werden in Ueber- 
zeugung und Gewöhnung zum Umschwung aller bestehen¬ 
den, damit nicht in Einklang zu bringenden Verhältnisse 
mit einer Macht, der gegenüber die Geschmackssimpelei 
des Einzelnen ganz ausser Betracht bleibt. 
Betrachten wir daraufhin einmal die Veränderungen, 
welche während der letzten fünfzig Jahre sich an unseren 
Wohnhäusern vollzogen haben. 
Schon zu Beginn dieser Periode bestanden in den 
Hauptstädten und den bedeutenderen Provinzialstädten, 
wie Stettin, Danzig, die Wohnhäuser aus drei, vier, auch 
fünf Stockwerken. Trotz der geringeren Bevölkerungs¬ 
ziffer und des niedrigen Boden wertes hatte schon die 
bei den meisten grösseren Städten noch in Geltung be¬ 
findliche festungsmässige Bebauung — früher schon hatte 
jede bedeutendere Stadt als Festung gegolten — dafür 
gesorgt, dass die Strassen möglichst eng angelegt und 
die Häuser möglichst hoch gebaut wurden. In diesen 
Häusern gab es eine einzige Treppe und diese war meistens 
stockdunkel, so dass man beim Betreten derselben, nament¬ 
lich in einem fremden Hause, sich eingehend über die hier 
im Finstern lauernden Gefahren orientieren musste. In den
	        
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