Volltext: I. Jahrgang, 1896 (I. JG., 1896)

Seite 26. 
OBERÖSTERREICHISCHE BAUZEITUNG. 
Nr. 3. 
Chemiegebäudes der Berliner Gewerbeausstellung 1896. 
Wir geben unseren Lesern den Inhalt desselben im Nach¬ 
stehenden wieder. 
Kunst und Hygiene im Wohnliause, so etwa begann 
der Herr Vortragende, sind anscheinend zwei durchaus 
verschiedene Dinge, die so gut wie gar nichts miteinander 
gemein haben. Nach der landläufigen Ansicht ist die An¬ 
wendung von Kunstformen doch lediglich eine Sache des 
rein persönlichen Geschmackes, die nur durch die Indi¬ 
vidualität des Eigenthümers oder des mit der Ausführung 
der Wohnungseinrichtung Beauftragten bestimmt wird. Die 
Hygiene dagegen lehrt uns, wie wir unsere Wohnungen 
behaglich einrichten können und müssen im Hinblick auf 
das, was bekömmlich, was gesundheitszuträglich ist. Ihre 
Wirksamkeit ist, wie die eines tüchtigen Arztes, natur- 
gemäss in der Hauptsache eine vorbeugende, das heisst, 
sie strebt durch Verminderung schädlicher Zustände und 
Einrichtungen, durch Anbringung der für das Wohlergehen 
der Bewohner erforderlichen Verbesserungen, das Entstehen 
der Gefahren für das leibliche und seelische Wohlbefinden 
zu verhüten, um nicht den viel schwereren und weniger 
erfolgreichen Kampf bereits entstandener und zur Ein¬ 
wirkung gelangter Uebel aufnehmen zu müssen. 
Was aber, so werden die Meisten fragen, hat die 
gesundheitszuträgliche Einrichtung unserer Wohnung mit 
den in derselben verwendeten Kunstformen zu thun? Ist 
etwa dieser oder jener Styl mehr den Anforderungen der 
Hygiene entsprechend, als ein anderer? Kann man die von 
der Hygiene geforderten Einrichtungen nicht mit ganz 
beliebigen Schmuckformen umkleiden? 
Diese Fragen sind das beste, weil deutlichste Zeichen 
für die heute herrschende, aber irrige Anschauung über 
Bedeutung und Entstehung der Kunstformen. Unserem 
grossen Publicum sind die Kunstformen eben weiter nichts 
als die äussere Verzierung, das Mäntelchen, welches den 
Gegenständen, ganz nach Belieben und Mode verschieden¬ 
artig zugeschnitten, umgehängt wrird. In weiten Kreisen 
ist leider das Verständnis dafür verloren gegangen, dass 
die Kunstform sich jederzeit aus der Nothwendigkeit und 
dem Gebrauchszwecke heraus entwickelt hat und dass 
bisher nur in den Zeiten des Verfalles ähnliche Erscheinungen 
zu beobachten waren, wie dieselben uns in der Gegenwart 
an den mit den Formen verschiedener, neben einander ver¬ 
breiteter Style ausgestatteten Erzeugnissen häufig entgegen¬ 
treten. Betrachten wir die Entwickelung der Formen im 
Zusammenhänge, so finden wir, dass überall und zu allen 
Zeiten die Anlage und Einrichtung der menschlichen 
Wohnung zunächst nnd hauptsächlich nach den klima¬ 
tischen Verhältnissen sich gerichtet hat. Der ursprüngliche 
Zweck jeder Behausung, dem Menschen Schutz vor den 
Unbilden des Klimas zu gewähren, hat dem Hause und 
seiner Einrichtung jederzeit den Grundcharakter verliehen. 
Für den Bewohner der südlichen Länder, der sich immer 
im Freien aufhalten konnte, genügten die offenen Säulen¬ 
hallen, welche ihm Schutz boten vor den glühenden Sonnen¬ 
strahlen, und das Schlafzimmer war hier nur ein kleiner, 
geschlossener Raum ohne Fenster, da es jedem, der die 
Kühle der Nachtluft gemessen wollte, möglich war, sein 
Lager auf dem flachen Dache seines Hauses aufzuschlagen. 
Anders im Norden, wo während des weitaus grösseren 
Theils des Jahres der Aufenthalt in geschlossenen Räumen 
erwünscht ist und wo das festgefügte Haus Schutz bieten 
soll gegen Eis und Schnee. 
Gleiche Vorbedingungen führen auch in völlig ver¬ 
schiedenen Jahrhunderten und unter gänzlich verändertem 
Culturzustande zu gleichen Ergebnissen. Wir betrachten 
die Pfahlbauten als die primitivste Anfangsleistung auf 
dem Gebiete des Wohnungsbaues und doch ist das grosse 
und mächtige Venedig, das zur Zeit seiner höchsten Ent¬ 
wickelung unstreitig an der Spitze der Civilisation stand, 
in ganz gleicher Weise auf einem Pfahlroste aufgebaut. 
Der zweite wesentliche Factor für die Gestaltung un¬ 
serer Wohnung sind die socialen Einrichtungen und Ge¬ 
pflogenheiten. Sie beeinflussen im voraus die ganze Anlage 
und die Einzelgliederung ebenso gut, wie die klimatischen 
Verhältnisse dies thun. Aus den Sitten, den Lebens¬ 
gebräuchen, aus der Grösse der Städte, ja selbst aus der 
verschieden abgegrenzten Geschäfts- öder Arbeitszeit leiten 
sich die einzelnen Nationen und Stämme unterscheidenden 
Merkmale im Wohnhausbau her. Es hat weit mehr Ein¬ 
fluss auf Anlage und Ausstattung des Hauses, ob in der 
betreffenden Gegend das Einzelhaus oder das Mietshaus 
vorherrscht, als ob gerade dieser oder jener Styl herrscht 
und diese oder jene Mode vorübergehend die Geschmacks¬ 
richtung beeinflusst. 
Der persönliche Geschmack, die Vorliebe für diese 
oder jene Form ist demnach nur der weitaus kleinste 
Factor für die Formengebung. Eine ganze Reihe von Bei¬ 
spielen bestätigt dies ohne weiteres. Die Handschrift unserer 
Zeitgenossen erscheint uns so charakteristisch, so ver¬ 
schieden bei jedem Einzelnen, dass wir an der uns be¬ 
kannten Schrift ohne Schwierigkeit die Person des Schreibers 
zu erkennen vermögen. Sehen wir uns dagegen eine Anzahl 
von Briefen an, welche eine oder mehrere Generationen 
vor unserer Zeit geschrieben worden sind, so erscheinen 
uns alle die Handschriften einander so ähnlich, dass wir 
nur kleinere Unterschiede zwischen ihnen festzustellen 
vermögen. Das Typische der Schrift jener vergangenen 
Zeit tritt uns um so viel schärfer vor Augen, während 
wir bei den Handschriften der Zeitgenossen noch so von 
den kleinen Details befangen sind, dass wir den gemein¬ 
samen Oharakterzug, welcher zweifellos auch unserer 
gegenwärtigen Schrift eigen ist und jedem Fernstehenden 
später sofort in die Augen springen wird, vorläufig ganz 
übersehen. Ebenso verhält es sich mit den Kunstformen. 
Auch hier hat jede Zeit ihren gemeinsamen Typus, über¬ 
einstimmende, allgemeine Eigenschaften, welche den Zeit¬ 
genossen durch die Details verschleiert werden, dem in 
anderer Zeit lebenden Betrachter aber als charakteristisches 
Erkennungszeichen der ganzen Epoche in die Augen 
springen. 
Die Wohnungsverhältnisse geben den Grundtypus für 
die Möbel an. In jeder grösseren Stadt hat sich ein Normal¬ 
grundriss herausgebildet, welcher mehr oder weniger ab¬ 
geändert regelmässig sich wiederholt. Das Eigenthümliche 
der Berliner Wohnung z. B. ist das sogenannte Berliner 
Zimmer, welches für die Möbel, speciell das Buffet, ganz 
aussergewöhnliche Maße zulässt, sodass man die für eine 
Berliner Wohnung brauchbaren Riesenmöbel anderswo 
nur schwer unterbringen würde. Wie mit den Möbeln, 
verhält es sich mit den Häusern selbst. Die verschiedenen 
Baustyle, welche an unseren modernen Mietshäusern im 
Aeusseren angewendet werden, vermögen doch durch¬ 
greifende Verschiedenheiten nicht zu schaffen. Wenn jemand 
nach einem Menschenalter die jetzt entstandenen Gebäude 
in angeblich gothischem, Renaissance- oder Rococostyl 
betrachtet, er wird schwerlich mehr als rein äusserliche 
Unterschiede an denselben entdecken. Der Grundgedanke, 
die aus unseren Lebensbedürfnissen sich ergebende Zimmer¬ 
zahl, Zimmerfolge und die Ausstattung derselben mit Nutz-
	        
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