Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

302 
Wilhelm Meister ist Goethes großer Lebensgedanke. An ihm hat der junge 
Goethe teil, aber er ist in ihm nicht vollendet. Die Lehrjahre sind denn also 
nicht die Ausarbeitung einer früher liegen gebliebenen Jugendarbeit, sondern 
sie sind, gleich dem „Faust" und gleich „Dichtung und Wahrheit", ein un 
geheurer Versuch des Dichters, Jahrzehnte eines fabelhaft reichen und tätigen 
Lebens dichterisch zu kristallisieren. Es ist im Wilhelm Meister das Höchste, 
das Unmögliche versucht, das macht ihn zum Vorbild für die größten Romane 
eines halben Jahrhunderts, und das trennt ihn von den Gebilden einer- 
bescheideneren Generation, deren beste den „Meister" an scheinbarer Form 
übertreffen, deren keines ihn an Größe und innerer Fülle erreicht. 
Von den Zeitgenossen hat keiner die Entstehung der „Lehrjahre" so 
liebevoll und zugleich so kritisch verfolgt wie Schiller. In keinem seiner 
Werke war Goethe so weit von ihm entfernt wie im Meister, keines brach so 
persönlich und kühn aus den von ihnen beiden erkannten und formulierten 
Formgesetzen heraus, und doch enthielt und entwickelte keines, außer dem 
Faust, das ihnen beiden gemeinsame Kulturideal vollkommener und bewußter. 
Schiller hat in mehreren Briefen den Meister scharf kritisiert, und einmal 
spricht er dem Roman überhaupt den Wert einer Kunstform ab, er nennt 
ihn unpoetisch, da er vor allem nur den Verstand zu befriedigen suche, und 
er konstatiert nicht ohne Unbehagen ein „sonderbares Schwanken zwischen 
einer prosaischen und poetischen Stimmung" im Wilhelm Meister. Er ver 
gleicht ihn mit „Hermann und Dorothea", und sagt: „ . . . und doch führt 
mich der Hermann (und zwar bloß durch seine rein poetische Form) in eine 
göttliche Dichterwelt, da mich der Meister aus der wirklichen Welt nicht ganz 
herausläßt". Dann findet er „zuviel von der Tragödie" im Meister, und 
endet: „Kurz, mir däucht, Sie hätten sich hier eines Mittels bedient, zu dem 
der Geist des Werkes Sie nicht befugte." 
Aber trotz all dem schließt der strenge Schiller diesen kritischen Brief, 
beinahe wider Willen bezwungen, mit den wundervollen Worten: „Übrigens 
kann ich Ihnen nicht genug sagen, wie mich der Meister auch bei diesem 
neuen Lesen bereichert, belebt, entzückt hat — es fließt mir darin eine Quelle, 
wo ich für jede Kraft der Seele und für diejenige besonders, welche die 
vereinigte Wirkung von allen ist, Nahrung schöpfen kann." 
Wenn das die Schlußmeinung Schillers ist, wenn er, der unerbittliche 
Ästhetiker und Verehrer der reinen Formen, über alle Bedenken und An 
stöße hinweg sich zu solcher Liebe und Dankbarkeit gegen den Meister be 
kennt, so haben wir Heutige vollends keine Gründe, uns solcher Liebe und 
Dankbarkeit zu entziehen. Wir sind, was das Ästhetische betrifft, wenig mehr 
verwöhnt, und wenn wir irgendwo Grund haben, Schillers Ästhetik zu ver 
lassen, so ist es diesem Roman gegenüber, den wir als Versuch, als grandioses 
Stückwerk empfinden mögen, der aber, auch als Form, der deutschen 
Dichtung neue, überaus fruchtbare Wege gewiesen hat.
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.