Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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Die „Lehrjahre" haben eine lange Entstehungsgeschichte. Schon zwei 
oder höchstens drei Jahre nach dem Fertigwerden des „Werther" hat Goethe 
die Arbeiten an diesem Roman begonnen. Das Wert hieß in jener ersten 
Fassung „Wilhelm Meisters theatralische Sendung" und war volltommen 
verschollen, bis ein glücklicher Zufall vor wenigen Jahren die ersten 
sechs Bücher dieses „Urmeister" wieder zu Tage brachte. Die endgültige Form, 
in welcher die Lehrjahre seit ihrem ersten Erscheinen im Buchhandel bestehen, 
ist manche Jahre später entstanden. Die „Wanderjahre", von denen hier nicht 
weiter die Rede sein soll, sind wieder um Jahrzehnte später fertig geworden 
oder doch notdürftig abgeschlossen, und alles in allem hat Goethe sich mit 
der Arbeit am Wilhelm Meister, der schließlich doch ein gewaltiger Torso 
blieb, mehr als fünfzig Jahre geschleppt! Man kann an ihm, noch mehr als 
am Faust, die Phasen und Schichtungen dieses reichen Lebens studieren, 
wie ein Naturfreund in einer Moränenlandschaft die Schiebungen und 
Revolutionen der Erdgeschichte abliest. Der ganze Goethe ist in diesem 
wunderlichen Werk gespiegelt, Feuergeist und stürmende Wildheit der Werther 
tage weht glühend darin nach,! Früchte der Freundschaft mit Schiller, Spuren 
der italienischen Einflüsse stellen sich dar, die ganze Atmosphäre der besten 
Weimarer Jahre atmet voll und klar herein, und schließlich geistert in den 
„Wanderjahren" die fast mythisch gewordene Figur des alten Goethe, geheim 
nisvoll in tempelhafter Größe und Feierlichkeit. 
Die „Lehrjahre" nun sind zum erstenmal in den Jahren 1795 und 
1796 erschienen; sie sind es, deren Lektüre die besten Geister jener Zeit so 
tief erregte, an denen Novalis sich labte und an denen er litt wie an einem 
Schicksal, über welche Schiller eine Reihe seiner schönsten Briefe an Goethe 
geschrieben hat. 
Ein Vergleich der ersten Fassung mit der zweiten, der „theatralischen 
Sendung" mit den „Lehrjahren", kommt einem Vergleiche des jungen 
Goethe mit dem älteren gleich. Dort ein Werk von kühnem, klarem Wurf 
und Willen, im Detail voll blühender Kraft und Laune, sprühend und über 
quellend — hier ein stilleres, kühleres, gezwungeneres Buch, in manchen 
Kapiteln ärmer an Anschaulichkeit und momentaner Genialität, in seinem 
Ganzen aber so hoch und weit gewachsen, so universell und über das Per 
sönliche hinaus gerückt, daß jede weitere Vergleichung hinfällig wird. Die 
„theatralische Sendung" ist ein Schatz, an dem wir uns nicht genug freuen 
können; aber wir müssen sie als Fragment genießen, als ein wundervolles 
Dokument jener Jahre der verglühenden Jugend und beginnenden Reife. 
Daß Goethe nun, wie manche Schwärmer meinen, jene erste Fassung hätte 
stehen lassen und unverändert den „Lehrjahren" zugrunde legen sollen, ist eine 
törichte und indiskutable Forderung. Wir lernen durch die Lektüre der 
„Sendung" Goethes Arbeitsweise besser kennen und wir sehen ihn, indem er 
viele kleine Reize und Schönheiten opfert, die Jugendarbeit mit der Un 
erbittlichkeit des großen Meisters überwinden. Der Grundgedanke des
	        
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