Volltext: Eckart Nr. 5 1913/14 (Nr 5 / 1913/14)

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fache machen, er wird nicht Mängel und Tugenden des Wertes zählen und 
nebeneinander stellen, sondern das Ganze in seiner Einheit lieben und verm 
ehren lernen. Diese Einheit besteht nicht in der Form, nicht in einem formu- 
lierbaren Glauben und Bekenntnis, sondern lediglich in einer tiefen, von 
jeder Selbstsucht gelösten Liebe zu allem Menschenwesen. Diese Liebe 
ist Wilhelm Meisters Tugend, und ihnr kann jeder von uns sich ähnlich 
fühlen und ähnlich werden, wenn er sich auch von Goethes Wesen unendlich 
fern und traurig unterschieden weiß. 
Der Meister ist kein Kunstwerk, dessen Vollkommenheit uns bestürzt 
und niederschlägt. Er ist durchaus menschlich, er kann unser Freund und 
Begleiter werden, er fordert nichts von uns als die Aufrichtigkeit unserer 
Liebe. Haben wir die, so dürfen wir alles Einzelne im Meister preisgeben: 
wir dürfen schließlich Schiller Recht geben und im Roman überhaupt 
keine hohe Kunstform sehen, wir dürfen über kleine Unbeholfenheiten des 
Werkes von Herzen lächeln und werden doch bei jeder Lektüre die Empfan 
genden, die Beschenkten, die Bezauberten sein. Wir sehen in ihm nicht eines 
jener Kunstwerke, die in erhöhter einsamer Schönheit stehen, denen wir 
nur in festlichen Stunden nahen dürfen. Wir sehen in ihm einen Trost und 
eine Freude für jeden Tag, wir gehen auf seinen Fluren umher wie auf 
dem Boden des Vaterlandes, mit Ehrfurcht, doch ohne Scheu, unserer 
Rechte, unserer Zugehörigkeit gewiß. 
Es ist diesem Buche eigen, daß es weder dem nach einzelnen Erkennt 
nissen suchenden Verstände, noch dem nur nach ästhetischer Befriedigung 
suchenden Gefühle sich ganz erschließt. Niemand kann den Wilhelm Meister- 
auf einnral auslesen, niemand kann in irgend einem Augenblick während oder 
nach der Lektüre den ganzen Reichtum des Buches auf einmal fühlen und 
kosten. Wir wandeln auf seinem Boden wie auf der guten, fruchtbaren, 
treuen Erde» wir blicken zu ihm empor wie zum ewigen, seligen Himmel, 
wir fühlen uns von ihm in unseren guten, wertvollen, edlen Regungen und 
Hoffnungen bestätigt und gestärkt, in unseren Schwächen und Fehlern aber 
wohl getadelt und erkannt, doch nicht verdammt. Im Wilhelm Meister ist, 
wenn irgendwo, die Religion für alle jene zu finden, die keines übernommenen 
Bekenntnisses mehr fähig find und denen doch die bange Einsamkeit des 
glaubenlosen Gemütes unerträglich ist. Kein Gott wird hier gelehrt, kein 
Gott gestürzt, kein irgend reines Verhältnis der Seele zur Welt wird ab 
gelehnt. Verlangt wird nicht Griechentum noch Christentum, einzig der 
Glaube an den Wert und die schöne Bestimmung des Menschen, zu lieben 
und tätig zu sein. 
Die Botschaft klingt uns Heutigen schon wie aus einer seltsamen 
Ferne herüber, aus einem anderen Jahrhundert, aus einer, wie uns scheinen 
möchte, leichteren, heiteren, glücklicheren Welt der Zeit. Sie ist aber das 
Allerwirklichste und Greifbarste, was jene Zeit uns hinterlassen hat, und keine 
Botschaft ist seither auf Erden verkündigt worden, der unser Herz so dankbar,
	        
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