Volltext: Illustrierte Kriegsbeilage Nr. 42 1916 (Nr. 42 1916)

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Sonntag, 15. Hktoöer 
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Mr. 42, 
€ri)örung. 
Bon Josef Gangl. 
Sie verdankten ihr Glück dem alten Ortsrichter. 
Er sah sie an einem Winterabend auf ihrer beschwer¬ 
lichen Wanderung. Und da erbarmten sie ihn. Sie 
machten sich gar zu jämmerlich mit dem Heimwärts¬ 
bringen ihres Handwägelchens. Ein jedes von ihnen 
wollte dem anderen die Plage verringern. Der an der 
Deichsel ziehende, zwölfjährige Edi brach ab und zu 
auf dem glitschigen Neuschnee in die Knie, war aber 
doch immer wieder schon auf, ehe die hinten anschiebende 
Mutter mit dem schmalen, schweiß- 
überströmten Sorgengesichte um die 
große Flachsladung herum nach 
vorne sehen konnte. Neben der 
Mutter stemmte die neunjährige 
Zenzi an der Fracht. Der kleine 
Jakerl hing sich an die Rockfalte 
der Mutter. Man konnte ihn nicht 
zu den zwei Kleinsten, dem Lipperl 
und der Liese, auf das Gefährte 
laden, weil er in seiner dünnen 
Kleidung beim Sitzen erfroren 
wäre. Der Ortsrichter redete die 
arme Witwe lächelnd an: „Euer 
Flachshandel muß sich wohl recht 
verlohnen, weil ihr euch gar so viel 
um ihn Plagt." Das Weib lächelte 
auf, aber freilich um vieles herber 
als der Alte. „Das Geschäft ver¬ 
langt wohl mehr Lieb', als es be¬ 
zahlt", sagte sie. — „Aber, wenn 
es uns nur jeden Abend auf ein 
warmes Lager hilft, sind wir froh." 
„Ich möcht' mich nicht alle 
Tage so um meine Liegestatt pla¬ 
gen müssen", gestand der Alte. 
Das Weib zuckte mit den 
Achseln. „Wir gehören halt nicht 
zu denen, die mit dem Leben auch gleich eine Heimat 
geschenkt bekamen. Auch nicht zu denen, die sich ehrlich 
eine verdienen könnten. Wir müssen wandern." 
„Wenn euch mit einem Unterschlupf allein geholfen 
wär'", begann nun etwas zögernd der Alte. 
„Wüßtet Ihr uns einen?" fragte das Weib er¬ 
wartungsvoll. 
Er nickte. „Ja. In dem Lakermannhäusl 
dort kann ich euch zinsfrei halten. Einziehen 
könntet ihr zu jeder Stund." 
„Jst's wahr?" rief nun der an der Deichsel 
stehende Edi. „Da fahren wir gleich wieder 
talab, anstatt zum Paßwirtshaus hinauf." 
„So kommt mit!" sagte der Mann. 
Der Junge machte sich gleich eifrig an 
das Umkehren des Gefährtes und seine Mutter 
half ihm dabei. Der Alte mußte darüber 
lächeln, daß sie gar so bedenkenlos umkehrten. 
Damit zeigten sie sich ja zum Eingehen einer 
ganz neuen Lebensweise bereit. Aber sie wußten 
wohl, was sie taten . . . Um ein kostenfreies 
Hausen konnten sie frohgemut von ihrem müh¬ 
seligen Flachshandel ablassen. So viel Brot, 
als ihnen das elende Wanderleben trug, meinten 
sie leicht überall verdienen zu können, wo sie 
kein Quartiergelv zahlen mußten. Sie hatten 
sich bisher in ihrer Not den Besitz einer Heimat 
als ein ganz unschätzbares, für sie nie erreich¬ 
bares Glück vorgestellt. Es war nämlich das 
rechte Wanderblut nicht in ihnen, das lieber 
alle Unbill der Reise leidet, ehe es sich an einem Orte 
halten läßt. Ihre Vorfahren waren rechtliche Bauern 
gewesen, die in ihrer christlichen Güte und Ehrlichkeit 
um Hab und Gut kamen. 
Das Lakermannhäusl, das nun der Richter den 
Armen überlassen wollte, war ihnen wohl bekannt. Es 
stand unten zwischen zwei felsigen Ausläufern des 
mächtigen Bergleibes auf einem kleinen Schotterfelde. 
Einen viel einfacherm Bau konnte es wohl nicht mehr 
geben. Um eine Wand und einen Dachflügel zu ersparen, 
hatte man die kleine, hölzerne Bauschaft an den senk¬ 
rechten Abfall eines hohen Steinblockes gezimmert. Das 
morsche Holzwerk hatte sich, wie man sah, schon einmal 
völlig von seiner festen Steinlehne trennen wollen und 
war mit zwei einfachen Pflöcken wieder daran gespreizt 
worden. Seit vier Jahren hatte niemand in dem Laker¬ 
mannhäusl gewohnt. Es gehörte dem ehemaligen Ge¬ 
meindehirten des kleinen Bergdorfes. Er hatte sein Ge¬ 
schäft und seine Heimat nie recht geachtet und geliebt. 
Er war ein besserer Musikant als Hirte gewesen. Mit 
seiner Trompete zog er denn auf einen ihm mehr zu¬ 
sagenden, lustigeren Broterwerb aus und war seitdem 
Kermarmstadt: Hing und akter Stadtturm. 
nicht wiedergekommen. Vor dem Scheiden hätte er die 
Hütte gerne verkauft. Aber die wollte niemandem recht 
passen. So vertraute er sie der Obhut des Ortsrichters 
an und ging. 
Der Richter fand für die armselige Behausung 
Mietsparteien. Den lächerlich kleinen Zins sandte er 
Schloß Mramare Bei Friest. 
dem Musikanten in die Welt nach. Aber dann kam 
einmal das Geld wieder durch die Post zurück. — 
Der Hausherr war nirgends mehr zu erfragen. Das 
Haus aber war im Laufe der Zeit kein angenehmerer 
Aufenthalt geworden und der Richter fand jetzt keinen 
Mieter mehr dafür. So ließ er es denn leer stehen 
bis jetzt. 
Der Witwe mit ihren fünf Kindern gefiel es nun 
hier wundergnt. Sie verstanden es, sich in der Hütte 
mit geringen Mitteln wohl einzurichten. Das neue Glück 
gab ihnen neuen Lebensgeist. Der Richter stellte ihnen 
ein beständiges Hierbleiben in Aussicht und schenkte ihnen 
damit ein von ihnen früher nie gekanntes Gefühl der 
Sicherheit und Ruhe. Sie taten alles, um sich diese Zu¬ 
fluchtsstätte zu erhalten. Bei ihrem guten Willen wurde 
ihnen auch der Brotverdienst leicht. Ihrer zwei konnten 
in den Taglohn gehen. Bei den Bauern gab es in 
den Scheunen und Spinnstuben den Winter über genug 
zu tun und Edi war zu den beim Dreschen nötigen 
kleinen Hilfsarbeiten, sowie zum Garnspulen und Federn¬ 
schleißen geschickt genug. Zenzi gab daheim auf die drei 
Kleinen acht. Man konnte sich auf sie verlassen. Sie 
hatte beinahe den Verstand einer 
Erwachsenen. Jeden Abend gab es 
dann glückliche Heimkehr und das 
wohlige Gefühl des Geborgenseins. 
Sie fanden nun das Glück, eine 
Heimat zu besitzen, kaum kleiner, 
als sie es sich früher vorgestellt 
hatten. Das neue Leben brachte 
ihnen sogar manchen Reiz, von dem 
sie früher nicht träumten. Heute 
hatte Zenzi für die zwei Verdiener 
eine Ueberraschung. Eine gutherzige 
Nachbarin hatte einen mannslangen 
Sack wunderschöner Erdäpfel in 
die Hütte geschickt. Und Zenzi briet 
nun so viele der Früchte am Herd- 
feuer, als die Familie zum Abend¬ 
essen brauchen konnte. Wenn Mutter 
und Edi kamen, brauchte nur ein 
Topf Milch an das Feuer gerückt 
werden und das Nachtmahl war 
fertig. 
Aber da kam nun vor den bei¬ 
den ein anderer, ein alter Mann, 
der unter dem Arme eine in Fetzen 
gehüllte Trompete trug. Er hatte 
anstandslos in die Hütte gekonnt. 
Zenzi pflegte die Türe nicht zu ver¬ 
sperren. Das war hier bei den Armen nicht der Brauch. Der 
Alte sah nun zunächst verwundert in den Stubenraum. 
Er hatte die Türe leise geöffnet. Die am Herde stehende 
Zenzi hörte nichts davon. Lipperl und Liese, die zwei 
Kleinsten, saßen einander gegenüber auf dem Fußboden 
und spielten mit Holzfiguren, die ihnen Edi geschnitzt 
hatte. Der Ankömmling sah dem Spiele ganz 
ruhig eine Weite zu. 
Jakerl hatte eben aus kleinen Reisigstäb¬ 
chen eine Hütte gebaut: ein tiefabhängendes 
Dach über einigen Spreizen. Unter dem Dache 
stellte ein Holzwürfel den Stubenherd vor. 
Eine vielfach beschädigte, kleine Glaskugel, die 
er noch von der Wanderzeit her besaß, hatte 
Jakerl auf seinen Herd gelegt, weil er sah, 
daß der vom wirklichen Herd herfallende rote 
Schein im Glase ein seltsames, zaubervolles 
Feuer erzeugte. „Das ist unsere Hütte", er¬ 
klärte er den andachtsvoll zuhörenden zwei 
Kleinen. „Das ist der Herd und das Feuer 
und da sind wir, seht ihr? Da kommen wir aus 
der kalten, finsteren Nacht, die da herum ist, 
ich, die Mutter und du und du und Edi. Wir 
haben so viel gefroren und es war so garstig 
in der Finsternis. Ihr wißt ja noch, wie garstig 
es war. Und das ist der Richter, der uns 
führte, bis wir hieherkamen in das schöne, 
warme, lichte Haus, da könnt ihr nun bleiben, 
da habt ihr eine Heimat, bis der Musikant 
kommt. Iber der wird wohl nimmer kommen', 
so hat der Richter gesagt. Wißt ihr es noch?" 
Ja, die beiden wußten es noch. 
„Er kommt nimmer", sagte Liese. Und fast leiden¬ 
schaftlich setzte sie hinzu: „Darf nimmer kommen!" 
Und der kleine Lipperl ballte grimmig die Faust. 
„Darf nimmer!" 
„So müßt ihr nicht sagen", vermahnte nun Zenzi 
vom Herde her. „Beten müßt ihr, daß er nimmer kommt." 
Sie waren einverstanden. 
„Ja", sagten sie, „nun beten, beten."
	        
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