Volltext: Nr. 77 (77. 1920)

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Nr. 77 
f a 17. Dezember 
Linz, am eTTebeth 568l" 
1920 
Aufgaben der „Jüdischen Moderne".*) 
Von Dr. Hermann Kadisch, Vöslau. 
Wer das Wesen der Judenfrage als Ganzes ver¬ 
stehen und an ihrer Lösung mitarbeiten will, muß 
vor allem über drei Tatsachen sich klar werden: 
1» Die Judenfrage ist eine universelle Frage des jüdischen 
Gesamtvolkes und nicht nur ein Problem der Juden ein¬ 
zelner Länder und Städte. 2. Die Judenfrage hat eine 
nationale, religiöse und ökonomische Seite, genau so wie 
der Antisemitismus teilweise nationalen, konfessionellen 
und sozialen Motiven entspringt. Es ist daher drittens die 
Judenfrage in ihrer Totalität nur lösbar im organischen 
Zusammenhang mit den nationalen, religiösen und öko¬ 
nomischen Zeitfragen der gesamten Kulturmenschheit. 
Damit sdll keineswegs gesagt sein, daß die politische und 
Ökonomische Lage der Juden in allen Ländern dieselbe 
ist, und vor allem darf die Tatsache nicht übersehen wer¬ 
den, daß die Lage und die Bedürfnisse der Juden West- 
und Osteuropas, und teilweise sogar die der Juden in den 
verschiedenen Teilen Westeuropas von einander diffe¬ 
rieren. Aber da und dort werden die Juden von den natio¬ 
nalen Chauvinisten aller Völker als Fremdvolk, genau 
so wie alle Andersnationalen bekämpft, wozu sich noch 
der Umstand gesellt, daß die Juden nicht nur als natio¬ 
naler Fremdkörper, sondern auch als eine andere Reli- 
gionsgenossenschaft betrachtet und überdies noch von 
den einen als Repräsentanten des Kapitalismus, von den 
andern als Vorkämpfer des revolutionären Umsturzes an¬ 
gesehen werden. 
Was kann, was soll zur Losung der immer brennen¬ 
der werdenden Judenfrage unternommen werden? Die 
Assimilation, das restlose Aufgehen unter den sie um¬ 
gebenden Völkern, lautet die eine Antwort. Selbst wenn 
die Juden ihre nationale Individualität aufgeben wollten, 
selbst wenn sie bereit wären, restlos aufzugehen im Völ¬ 
kermeere, die andern Völker würden sie ablehnen. Die 
polnischen und ungarischen Juden, die sich bemühten, 
sich ihres Volkstums restlos zu entäußern, nach bestem 
Wissen und Gewissen im Polen- und Magyarentum auf¬ 
gehen wollten, sie haben es mit ihrer assimilatorischen 
Politik soweit gebracht, daß man sowohl in Polen als 
auch in Ungarn selbst vor den brutalsten Mitteln nicht 
zurückschreckte, um sie im Lande rechtlos zu machon., 
sich an ihrem Leben zu vergreifen oder ihnen das Leben 
unerträglich zu gestalten. Aber auch in jenen Ländern, 
•) Aus einem am 12. in Linz gehaltenen Vortrag. 
wo der Chauvinismus und Antisemitismus sich nicht so 
brutal äußert, siund wo letzterer die ^kultiviertere Form 
des Asemisismus annimmt, wünscht man eine reinliche 
Scheidung zwischen den Juden und Deutschen, bezw. Sla¬ 
wen. Es müsse Ii daher zur Judenfrage andere Wege ein¬ 
geschlagen werden, die schon zum Teil betreten worden 
sind. Im Volksbewußtsein der überwiegenden Mehrheit 
aller Völker, auch der nicht antisemitischen Kreise, hat 
sich allmählich die Überzeugung, genau so wie bei einem 
ansehnlichen Teil der Juden die Anschauung durchge¬ 
rungen, daß die Juden eine eigene Volksindividualität 
sind, mildem Rechte eines Minoritätenschutzes, allüberall 
'wo sie in größeren Siedlungen wohnen, und mit dem 
Recht auf ein Kultur- und Emigrationiszentrum in ihrer 
historischen Heimat, in Palästina, für jene Juden, die 
auswandern müssen, auswandern können und auswandern 
wollen. v 
Wer die Vorkommnisse in Polen, der Ukraine, Un¬ 
garn und Rumänien und das Bestreben anderer Länder 
sich ihrer Juden zu entledigen, objektiv betrachtet, wer 
weiter die Tatsache der Erschwerung der Einwanderung 
in England und Amerika, sowie anderer Staaten nicht 
übersieht, der muß nicht nur vom zionistischen und all- 
jüdischen, sondern auch vom allgemeinen Standpunkt des 
Kulturmenschen die Notwendigkeit des palästinensischen 
Heimes erfassen; wenn schon gar keime anderen Mo¬ 
mente, so würda^die Lage der Ostjuden ihre stärkste 
Begründung bilden. 
Wir sind aber keineswegs solche Utopisten zu glau¬ 
ben, daß alle Juden nach Palästina wandern werden, wir 
wissen, daß auf unabsehbare Zeiten hinaus die Majorität 
der Juden in ihren heutigen Wohnsitzen verbleiben wird ; 
eben darum wollen wir auch unseren-Rechten und Pflich¬ 
ten als Staatsbürger entsprechen und als solche, am allge¬ 
meinen, politischen und Ökonomisehen Fortschritt in dem 
Staate, in dem wir leben, mitarbeiten; es ist auch voll¬ 
ständig unrichtig, daß wir die Absicht haben, die Juden 
von den anderen Völkern kulturell%der wirtschaftlich 
isolieren zu wollen, genau so wie es unrichtig ist, wenn 
man uns vorwirft, wir wollten, die Juden in ein Ghetto 
sperren, oder wenn man uns als nationale Chauvinisten, 
konfessionelle Zeloten, als Anhänger einer einseitigen 
Klassenpolitik bezeichnet. Wir wollen unser Volk 
erhalten und erneuern, aber wir lehnen jede reli¬ 
giöse und nationale Intoleranz bei uns wie bei den 
anderen entschieden! ab; fußend auf jüdischer Ethik, 
wollen wir als jüdische Moderne treu unserem eigenen 
Volke, getreu unserer geschichtlichen Mission an der Idee
	        
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