Volltext: Nr. 76 (76. 1920)

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Nr. 76 
f • 26. November 
Linz, am 
15. Eislew 5681 
1920 
Probleme der Landesarbeit 
Fran& Schüsz. 
Im nachstehenden geben wir 
Ausführungen gerne Raum, wel¬ 
che teilweise nicht unsere Zu¬ 
stimmung finden können, die 
jedoch so wichtige Probleme 
berühren, daß eine klärende 
Diskussion sehr zu begrüßen 
wäre. Die Redaktion. 
Obwohl es im Rahmen des letzten zionistischen Partei¬ 
tages unmöglich war, all die brennenden, all die aktuellem 
Fragen des Zionismus zu erörtern, so kam es doch im 
Laufe der Diskussion zu einigen sehr interessanten Fest¬ 
stellungen, die viel zur Klärung schon alter Probleme bei¬ 
tragen kpnnen. Vor allem hat sich die Notwendigkeit 
einer noch viel intensiveren Landesarbeit gezeigt, nicht 
nur, um die Stellung derjenigen! Juden, die nach Pa¬ 
lästina nicht auswandern wollen oder können, in den 
Ländern der Zerstreuung zu befestigen, sondern auch, 
um die furchtbar schwere, nur langsam, mit ungeheuren 
Schwierigkeiten vor sich gehende Emigration nach Pa¬ 
lästina besser fördern zu können. So stellte Dr. Otto 
Abel es am Parteitag in seinen mit großem Interesse 
aufgenommenen Ausführungen präzise fest, daß die Ko¬ 
lonisation Palästinas keine totale, vollständige Lösung 
der Judenfrage sein könne, daß man daher in den Fragen 
der Landesarbeit endlich einmal zur Klärung kommen 
müsse; er wandte sich gegen den so oft schlagwortartig 
gebrauchten Ausdruck „Galuth", erklärte, daß jeder, der 
im Zionismus nicht eine bloße Kolonisationsbewegung, 
sondern eineRenaissance der gesamten Judenheit erblicke, 
für eine alljüdische Politik für alle Juden sowohl in der 
Diaspora wie in Palästina eintreten müsse und schloß mit 
den Worten Nathan Birnbaum: „Israel vor Zionl" 
Ebenso betonte auch Dr. H. Kadisch die Wichtig¬ 
keit einer zielbewußten Landesarbeit, die natürlich nicht 
allein in Wahlarbeit gipfeln könne, sondern vor allem 
den Fragen der Wirtschaftspolitik ihr Hauptaugenmerk 
zuwenden müßte. Es ist ja eine Tatsache, daß heutzutage 
jqde nationale Partei, die ihre Gesinnungsgenossen^nicht 
mit leeren Worten abspeisen will, für das wirtschaftliche 
Wohl ihrer Anhänger sorgen muß und daher vor allem 
zu den Fragen der Sozialökonomie eine fixe Stellung ein¬ 
nehmen muß. Besonders gilt dies natürlich für die zio¬ 
nistische Partei, die doch eine* wahre Volkspartei sein 
will, die daher den marxistischen Klassenkampf energisch 
ablehnend, für die ökonomischen Interessen sämtlicher 
produzierender Stände eintreten mruß. Die marxistische 
Sozialdemokratie, deren materialistische Auffassung dem 
wahren Wesen der Juden fremd ist, deren Klassenstand¬ 
punkt des speziellen Struktus des jüdischen Volkes ganz 
und gar nicht entspricht, sie erkennt in Österreich nicht 
einmal die primitivsten Rechte auf Anerkennung der 
Juden als Nation an; von Tag zu Tag wird sie hier 
immer mehr deutschchauvinistischer, immer furchtbarer 
wächst der Antisemitismus in ihren Reihen, sie ist keine 
Judenschutztruppe, sie will es nicht sein: eine fürchtbare 
Kluft trennt jeden modern nationalen und modern sozia¬ 
len Juden von dieser Partei, die den Internationalismus 
ebenso verraten hat wie den Sozialismus. „Der ehemals 
notwendige, kulturfördernde Marxismus ist heute direkt 
ein Feind der Menschheitsentwicklung geworden", sagt in 
seinem neuesten Werk „Kulturpolitik, Weltkrieg und 
Sozialismus" der bekannte Soziologe Dr. Paul Weisen¬ 
grün. 
Daß Zionismus und Marxismus in jeder 
Form — Sozialdemokratie rechts oder kommunistische 
Partei links — absolut unvereinbar sind, bewies Doktor 
Weisen grün in einem kürzlich in der Vereinigung 
„Jüdische Moderne" in Wien gehaltenen Vor¬ 
trage; er zeigte dort nicht nur die Fehler des marxisti¬ 
schen. Systems (was die materialistische Geschichtsauf¬ 
fassung und den von Marx behaupteten Selbstzerstö¬ 
rungsprozeß des Kapitalismus betrifft), er bewies auch, 
daß die Sozialdemokraten den ihnen obliegenden Auf¬ 
gaben im allgemeinen und den Juden gegenüber in 
keiner Weise gerecht wurden. 
Es wird daher Aufgabe zionistischer Landesarbeit 
sein, sowohl Klärung in all den Fragen der Sozialöko¬ 
nomie zu schaffen als auch rege an der Besserung der 
wirtschaftlichen Verhältnisse mitzuarbeiten. Natürlich 
muß eine solche jüdische Politik, die dem1 unechten Inter¬ 
nationalismus der Sozialdemokraten entgegentritt, an¬ 
derseits jeden chauvinistischen Standpunkt im eigenen 
Lager bekämpfen; sie muß ebenso, wie sie den Marxis¬ 
mus, das Grundfundament der sozialdemokratischen und 
kommunistischen Partei, ablehnt, für energische Sozial¬ 
reformen, basierend auf moderner Bodenreform, eintreten. 
Kein einziger national fühlender Jude und nöeh weniger 
die zionistische Partei kann mit einer Partei sympathi¬ 
sieren, welche die Juden nicht als Nation anerkennt und 
nicht für Völkerverständigung einitritt. Es ist das Zei¬ 
chen eines wahren Kulturnationalismus, wie es der Zio¬ 
nismus ist, daß dur-3h das Bekenntnis zur Nation kein 
Ghetto, keine Mauer aufgerichtet wird zwischen dem
	        
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