Volltext: Nr. 74 (74. 1920)

Jüdische Nachrichten 
¥r. 74 
wsen, der zur Führung beruf toi war. Von Schwarz- 
Hi 11 er war es aber ein schweres Vergehen gegen dajs 
jüdische Volk, an einer ^teile zu kandidieren, an der schon 
im Vorjahre der unvergleichlich würdigere Dr. Ofner 
die geringeren Chancen gegenüber dem Jüdiselmationalen 
erwiesen hatte. Und das ist eben die traurige Erkenntnis 
anläßlich dieser Wahl: I)ie Juden zerfleiseh en 
sic h selb s t, a b e r 11 i c h t d i e Z i o n i s teil sind die- 
' jeniigen, welche böswillig die E i 11 i gk e i t z e r- 
s t ö r e n, son d e r 11 au f d e r G e g e n s e i t e v e r s a 111- 
m e 1 n s i e h d i e v ielen, w e 1 c h e dem J ud e 11 t u 111 
offen oder heimlich in de"r Rück e 11 fallen. 
Die Jüdischnationale Partei selbst hat in ihrem 
Haupt Wahlkreis gegenüber dem Vorjahre eine bedeutende 
Stimimenzunahme aufzuweisen. In ganz Wien konnte sie 
eine auch absolut stattliche Anhängerschaft werben, die 
weit starker ist als die zur Erreichung eines Mandates 
nötige WahlzahL 
i^neinj Provinzwahlkreisen, in denen die 
jüdische Reichsliste angemeldet war, ergibt sich ein er¬ 
freuliches Resultat. Was war nicht alles in den letzten 
Wochen vor der Wahl gescheheni, um die Erreichung 
des jüdischnationalen Wahlvorschlages aufzuhalten, 
Welche unsinnigen Erzählungen und Gerüchte, welche 
schmählichen Quertreibereien waren nicht in Szene ge¬ 
setzt worden. Juden wollten der jüdischen Bevölkerung 
einreden, daß es zu Pogromen kommen werde, antisemi¬ 
tische Wahlwerber wandelten von einem jüdischen Haus 
zum andern, um sich anzubiedern und so gangs je nach 
dem Ort etwas verschieden, aber überall in dem einen 
Sinn zu, daß jede jüdische Stimmte, welche sich offen für 
das jüdische Volk ausspreche, ein Unglück für dieses sei. 
Diese Umstände muß man bedenken, wenn man die Wahl¬ 
zahlen in den Provinzortßn ins Auge faßt. Absolut sind 
sie natürlich versehwi idend und beweisen nur, wie gering 
die jüdische Bevölkerung in diesen Gebieten tatsächlich 
ist. Kurzsichtig ist aber die Art und Weise, wie manche 
die jüdische Wahl abtun wollen. Wenn z. B. das sozial-, 
demokratische Linzer ,,Tagblatt" von einem lächerlichen 
Ergebnis der von einigen „übergeschnappten jüdischen 
Jünglingen" inszenierten Listeneinreiehung spricht, so 
beweist das 11111-, daß es von seinen jüdischen Gewährs¬ 
männern nicht nur mit dem Abguß „jüdischen Humors", 
sondern auch mit unrichtigen Angaben bedient wird. In 
Linz z. B. entschieden sich für die jüdischnationale Liste 
fast d i e Hälfte Aller zur Nationalität«wähl berechtig¬ 
ten Juden. Und diese Jlälfte hat mit ihrem offenen Be¬ 
kenntnis zum Judentum mehr Wert bezeigt und ist ent¬ 
schieden qualitativ höher einzuschätzen als der Rest, in 
den sich noch dazu Sozialdemokratie lind die reaktionären 
Christlichsozialen und Großdeu tschen teilen mußten; 
denn es gab auch solche israelitische Dunkelmänner, die 
den Antisemiten getreulich nachliefen. 
Der jüdischbewußte Gedanke hat trotz des ungün¬ 
stigen Wahlausganges einen mächtigen Impuls erfahren; 
und, wie wir schon in der vorigen Nummer dieses. Blattes 
ausführten, es handelt sich für das Judentum im gegen¬ 
wärtigen Zeitpunkt in erster Linie nicht nur um Stimmen 
und Mandate, sondern um Gesinnungen. 
Die Wahlen In den Nationalrat. 
In der Provinz für die Jüdischnationale Partei abgegebene 
Stimmen: 
Linz 177, Graz 401, Gerichtsbezirk: Amistetten 19, 
Scheibbs 36, Waidhofen a. Y. 3, Tülln 48, Melk 12, Pot- 
tenstein 1, Neulengbach, Purkersdorf, Liesing zusammen 
49, Kloster neubürg 48, Gloggnitz 2, Neunkirchen 2, Bruck 
a. d. L. 4, Baden 50, Stadt Wiener-Neustadt 100, Ge¬ 
richtsbezirk Wiener-Neustadt 10, Mödling 10, Krems 86 
Gmünd 35, Horn 36, Weidhofen a. Th. 3, Ottenschlag 4' 
Ober-Hollabrunii 32, Korneuburg 4, Floridsdorf (Umge¬ 
bung) 64, Mistelbach 12, St, Pölten 60, 
Die Aktion für Keren Hajessod. 
Ah die Entscheidung von San Rerno die politische 
Basis für die Erfüllung der Palästinatioffnungen brachte, 
ergriff eine tiefe Freude die gesamte jüdische Welt. In 
zahllosen Reden und Artikeln wurde die Bedeutung* die¬ 
ses Ereignisses gefeiert, und seine Wirkung auch auf 
diejenigen Kreise, die bisher dem; Palästinagedanken 
wenig oder gar kein Interesse entgegengebracht hatten, 
war unverkennbar. Die politische Arbeit der Leitung der 
zionistischen Organisation fand mit Recht die höchste 
Anerkennung. Inj rascher Folge gingen dann die Dinge 
ihren Gang weiter. Es folgte die Ernennung Sir Herbert 
Samuels zum1 Oberkommissär. Es folgte die 'Öffnung der 
Einwanderung. Die Einwanderung setzte sogleich stür¬ 
misch ein, und da sah man, welche außerordentliche wirt¬ 
schaftliche Schwierigkeiten einer raschen Bevölkerungs¬ 
zunahme in Palästina noch entgegenstehen. Die politische 
Arbeit, die übrigens auch heute noch in stärkerem Maße 
fortdauert, als vielfach bekannt ist — man denke nur 
an die so überaus wichtige Frage der Grenzbestimmung 
— hatte bisher alle Kräfte der Leitung absorbiert. Noch 
war es nicht lange her, daß die jüdische Zukunft Palä¬ 
stinas ein überaus- heikles Problem war, und nun wurden 
plötzlich die Schleusen aufgezogen, ehe noch Zeit ge¬ 
funden war zu einer umfassenden Regulierung des Flu߬ 
bettes. Die beginnende Einwanderung brachte, wie wir 
wissen, eine wirtschaftliche Krisis. Es fehlten die not¬ 
wendigsten Verwaltungsmaßnahm'en zu einer Einwande¬ 
rung, es fehlte mangels öffentlicher und privater Fonds 
die Möglichkeit, die Einwanderer zu beschäftigen. Unter 
dem Zeichen dieser Eindrücke tagte die Londoner Jahres¬ 
konferenz. 
Was ist zu tun, um die Schwierigkeiten des Augen¬ 
blicks zu überwinden ? Zwei Instanzen vor allem haben 
die Pflicht-, für Abhilfe zu sorgen: Die Regierung des 
Gerrieinwesens Palästina und die zionistische Organisa¬ 
tion. Die palästinensische Regierung, vertreten durch Sa- 
Herbert Samuel und seine Mitarbeiter, hat die Aufnahme 
einer verhältnismäßig bedeutendem Anleihe in die Weg** 
geleitet. Es ist mit Bestimmtheit zu erwarten, daß sie 
zum Erfolg führt. Indessen, wir dürfen nicht erwarten, 
daß der Ertrag dieser Anleihe in erster Linie jüdischen 
Zwecken zugeführt wird. Noch besteht die Bevölkerung 
Palästinas erst zu einer kleinen Minderheit aus Juden 
und die Regierung Palästinas darf ihre Gelder nur so 
verwenden, wie es den Interessen aller Bewohner Palä¬ 
stinas entspricht. So muß das jüdische Volk selbst ein¬ 
greifen, wenn es seine Palästinaaufgabe durchführen will. 
Tm dieser Erwägung hat die Londoner Jahreskonferenz 
beschlossen, die Aktion für den Keren Hajessod (Grund¬ 
fonds) einzuleiten. 
•Wie sollen die Gelder des Keren Hajessod verwandt 
werden? In erster Linie .sollen durch sie die dringendsten 
Erfordernistse des Augenblicks gedeckt werden. Sofortige 
Schaffung ausreichender Einwanderungvsfürsorge und so¬ 
fortige Schaffung von Arbeitsgelegenheiten kommt vor 
allem in Frage. Ferner Unterstützung sozialer Einrich¬ 
tungen der verschiedensten Art. Ausgaben, die auf die 
Dauer zum größten Teil auf das reguläre Budget über-
	        
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