Volltext: Nr. 71 (71. 1920)

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Jüdische Nachrichten 
Wr. 71 
Tribüne de« Staateis, welche früher lediglich der Ort 
wüstester Judeiihetze war, Worte ertönten, die unsere 
Stellung im Staate, unsere Schwächen ehrlich, unsere 
Bedeutung kraftvoll vor dem erstaunt aufhorchenden 
Österreich darlegten. Man braucht die besonderen An¬ 
lässe gar nicht zu rekapitulieren, bei welchen unser Man¬ 
datar den jüdischen Standpunkt präzisieren konnte, 
wobei er sich unbestritten ate einer der fähigsten Köpfe 
in der Legislative erwies; nicht zu reden von der uner¬ 
müdlichen Kleinarbeit, die verletzten jüdischen Rechten 
und Interessen galt. Die jüdische Bevölkerung in Ö'ster- 
iSewh muß wünschen, daß eis auch diesmal gelingt, Stricker 
in die National Versammlung zu entsenden. In allen 
Wahlkreisen, wo es die Verhältnisse gestatten, wird der 
jüdische Wahlvorschlag „Stricker und Genossen" ein¬ 
gebracht werden, so daß mit Ililfe dieser Reststimmen 
die' Aussicht auf die Eroberung eines zweiten Mandates 
besteht. Unser willkürlich für die Interessen der großen 
Parteien zugeschnittenes' Wahlgesetz ermöglicht es näm¬ 
lich nicht, gleich im ersten Skrutinium das Gewicht der 
jüdischen Stimmen wirken zu lassen, sondern räumt den 
Reststimmen nur so viele Mandate ein, als im ersten 
Zählverfahren einer Partei zugebilligt wurden. Aber es 
ist zu hotfemi, daß die jüdischen Wähler in Wien Nordost 
ihre* Pflicht auch diesmal erfüllen werden und trotz aller 
Hindernisse im neuen Volkshaus, wiederum Abgeordneter 
Stricker das aufrechte Judentum repräsentieren kann; 
und nicht weniger erfreulich wäre es, wenn auch, die 
Listenzweite, Frau Anitta Müller, die erfolgreiche Or¬ 
ganisatorin auf dem Gebiete der jüdischen Wohlfahrts¬ 
pflege, in die Nationalversammlung einziehen würde. 
Dazu ist es. aber notwendig, daß überall, wo der jüdiisch- 
nationale WaWVorschlag eingebracht wird, sich die jüdi¬ 
schen Stimmen auf diesen vereinigen?. 
Das Buhlen der Parteien um die Wählerschaft läßt 
den Juden keine Ruhe. Die bürgerlichen Gruppen haben 
den Antisemitismus' auf ikiy Fahne geschrieben und lag 
für Tag flattern Tausende von Zeitungisiblättern ins Land, 
erdröhnen Hunderte von Agitationsreden, die imimer 
wieder das eine Thema variieren: Dar Jud! Dar Jud! 
Mit billigen antis-emitischen Phrasen wollen sie das Volk 
für ihre Zwecke gewinnen. Und trotzdem! soll es Juden 
geben, die am Wahltage solchen Führern ihr Votum 
schenken wollen? Wer dies tut, besudelt sein eigenes 
Nefct und das Minimalprogramm für einen jüdischen 
Wähler muß lauten: Wenigstens keine Stimme einer 
antisemitischen Partei! 
Und überall dort, wo „Stricker und Genossen" kan¬ 
didieren, wird es besonders allen jenen, die, einem Di¬ 
lemma ausweichend, sich der Wahl enthalten hätten, 
willkommen sein, ihre Stimme nunmehr für eine- jüdi¬ 
sche Liste abgeben zu können. 
Der Jüdische Nationalfonds bei der Londoner 
Jahreskonferenz. 
Bei keiner früheren Tagung haben die Aufgaben 
und die Stellung des Jüdischen Nationalfonds einen der¬ 
art breiten Raum eingenommen wie bei den Verhand¬ 
lungen in London. Der Jahreskonferenz gingen! zunächst 
mehrere Direktoriumssitzungen voraus, die sich mit einer 
Reihe aktueller Fragen befaßten und sie einer glück¬ 
lichen Lösung zuführten. Diesen Sitzungen wohnte als 
Vertreter der Zionistischen Kommission in Palästina 
Ing. U s & i s c h k i n bei. Hervorzuheben ist der A b- 
schluß von B o d e n k ä u f e n< zwecks Arrondierung 
jüdischer Siedlungen, wodurch sich der Grundbesitz df> 
Jüdischen Nationalfonds um 5200 Dunam vermehrt hat. 
In den von der Jahreskonferenz eingesetzten Palii- 
stinakomniissionen (Kolonisation und Finanzen) waren 
die Verhandlungen über die Rolle des Jüdischen Natio¬ 
nalfonds besonders interessantt. In der Palästinakonnni 
sion standen sich zwei Richtungen schroff gegenüber. 
Eine, vornehmlich von den Arbeiterparteien vertretene 
Richtung, forderte die Nationali,sierung des gesamten 
von Juden erworbenen und zu erwerbenden Bodens unter 
absoluter Ausschaltung jeden privaten jüdischen Grund¬ 
erwerbes. Die* zweite Richtung erklärte sich im Prinlzip 
gleichfalls für die Überführung des gesamten von Juden 
zu erwerbenden Bodens in das Gemeineigentum! des jüdi¬ 
schen Volkes,. Sie vertrat aber den Standpunkt, daß 
mit Rücksicht darauf, als« der Jüdische Nationalfonds 
nicht imstande sein würde, schon in den nächsten Jahren 
die erforderlichen großen Kapitalien für den Erwerb des 
gesamten von Juden zu besiedelnden Landes aufzubrin¬ 
gen, so müsse im] Interesse der raschen Sicherung einer 
jüdischen Majorität in Palästina dem Privatkapital die 
Möglichkeit zu Bodenkäufen gewährt werden. Demgegen¬ 
über argumentierte1 die radikale Richtung wie folgt: 
Alle Erfahrungen der bisherigen Kolonisation haben ge¬ 
zeigt, daß Kolonisten, die sowohl den Boden wie div 
übrigen zur Ansiedlung nötigen Vermögensteile zu Eigen¬ 
tum haben, nicht selbst arbeiten wollen oder können. Si 
beschäftigen Lohnarbeiter, und da jüdische landwirt¬ 
schaftliche Lohnarbeiter nicht vorhanden sind — land¬ 
wirtschaftliche Lohnarbeiter sind auch bei anderen vor¬ 
geschrittenen Völkern immer weniger zu haben — s>o 
kommt die auf Lohnarbeit aufgebaute Kolonisation letz¬ 
ten Ende.gr auf eine Kolonisier u n g von A r aber n 
und nicht, von Juden hinaus. Also d. h., einer 
kleinen Anzahl jüdischer Kolonisten steht eine erdriik- 
kende Anzahl arabischer Lohnarbeiter und damit eine 
wachsende Majorität von A rabern gegenüber. Wenn das 
jüdische Volk sich über diese Konsequenzen vollständig 
klar sein würde, werde es die erforderlichen großen Mit¬ 
tel für den Erwerb des gesamten Bodens dem Jüdischen 
Nationalfonds zuführen. 
Die Anträge der Palästinakommission zur Boden¬ 
politik sind einstimmig angenommen worden. Angesichts 
der großen prinzipiellen Bedeutung der Anträge seien 
sie hier besonders angeführt : 
1. Das Grundprinzip der zionistischen Bodenpolitik 
ist, den Boden, auf dem die jüdische Kolonisation erfolgt, 
in das-Gemeineigentum des jüdischen Volkes zu über¬ 
führen. 
Die Exekutive wird aufgefordert, alles aufzubieten, 
um diesen Grundsatz zur vollen Durchführung zu 
bringen. 
2. Der Träger der jüdischen Bodenpolitik in Stadt 
und Land ist der Jüdische Nationalfonds. 
Seine Ziele sind: Durch Verwendung freiwilliger 
Volksspenden den Boden Palästinas in jüdischen Gemein¬ 
besitz zu überführen; den Boden ausschließlich in Erb¬ 
pacht und Erbbaurecht zu vergeben; die Ansiedlung mit¬ 
telloser, jüdischer, selbstarbeitender Elemente zu ermög¬ 
lichen ; die jüdische Arbeit zu sichern; die Nutzung des 
Bodens zu überwachen und der Spekulation entgegenzu¬ 
wirken. 
3. Die Kreditmittel der zionistischen Organisation 
sollen in erster Reihe solchen Ansiedlern zugute kommen, 
die sich den Prinzipien des Jüdischen Nationalfonds un¬ 
terwerfen.
	        
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