Volltext: Nr. 71 (71. 1920)

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Nr. 71 
Linz, am 
24. September 
12 r i ischri 5681 
1920 
Die Wahl in die Nationalversammlung. 
Wieder soll in Österreich gewählt werden. Der im 
Anfang des Vorjahres zusammengetretenen National¬ 
versammlung* war nicht einmal die gesetzmäßig zuge¬ 
billigte kurze Lebensdauer gegönnt, und ohne ihre eigent¬ 
liche Aufgabe erfüllt zu haben, soll sie von der neuen 
Nationalversammlung abgelöst werden, über deren Zu¬ 
sammensetzung die Wähler am 17. Oktober zu entschei¬ 
den haben!. Die scheidende gesetzgebende Körperschaft 
hat ihre Pflicht, die konstituierende zu sein, den Aufbau 
des neuen Staates zu Ende zu führen, nicht getan. Noch 
zur Stunde ist es fraglich, ob sie überhaupt das lang 
gehegte und noch immer nicht lebenskräftige Schmer¬ 
zenskind Verfassung zur Welt bringen wird; und sollte 
sie diesen wichtigsten und vornehmlichsten Akt ihres 
Daseins wider alles Erwarten doch zustande bringen-, 
so wird das Ergebnis einer Mißgeburt gleichen1. Aber 
es ist nebensächlich, ob die Verfassung von der schei¬ 
denden konstituierenden oder der neai gewählten Legis¬ 
lative beschlossen werden wird. Die nicht einmal zwei¬ 
jährige Lebensdauer unserer Republik Österreich hat 
unzweideutig d^T Vorherrschen von Tendenzen gezeigt, 
die, wenn auch zum Teil künstlich genährt, doch von 
starken inneren Kräften getrieben werden: Der Natio¬ 
nalstaat Deutsichösterreich vom Jahre 1918 hat sich in 
der Folgezeit eindeutig für eine Weiterentwicklung des 
partikularisitischen Auflösungsprozesses entschieden, der 
mit der Zerstörung der Monarchie begonnen hat. Es 
erscheint heute beinahe selbstverständlich, daß sich die 
Länder als selbständige staatliche Gebilde fühlen, die 
Ansicht, daß Österreich zu einem Bundesstaate umge¬ 
wandelt werden müsse — eine noch vor Monaten be¬ 
strittene Ansicht — begegnet heute keinem W iderstande 
mehr und Streitfrage ist lediglich nur die Abgrenzung 
der Kompetenz zwischen dem Oberstaat und den Länl- 
diern. Diese Tatstache ist für die Beurteilung der Wahl 
in die Nationalversammlung entscheidend. Das Schwer¬ 
gewicht der Gesetzgebung wird nicht mehr bei dem 
Volkshaus in Wien, noch viel weniger aber das der 
Verwaltung bei den Zentralstellen liegen, sondern die 
ganze Machtfülle ist in die Landeshauptstädte über¬ 
siedelt, bis sie diesen be^m möglichen Fortschreiten 
dieses Prozesses von den kleinsten Dorfgemeinden ent¬ 
zogen werden wird. So schädlich es für das Gemeinwesen 
sein mag, bis auf weiteres müssen wir damit rechnen und 
es ergibt sich daraus die Folgef daß die neue Nationial- 
versamtmlung, der Nationalrat, wie das Organ im Bun¬ 
desstaat heißen wird, das dazu noch von dem die födera¬ 
listischen Länderinteressen vertretenden Bundesrate 
gehemmt wird, sich kaum viel mehr als repräsentativen 
Charakter beimessen wird können. 
Aber trotzdem die Parteien sich über diese Schein¬ 
herrlichkeit der zu wählenden Körperschaft klar sind, 
da sie sie ja auf dem Gewissen haben oder zumindest 
nicht energisch genug zu verhindern verstanden, machen 
sie doch die lebhaftesten Bemühungen und Anstrengun¬ 
gen, um die Wählerschaft einzufangen. Man kann sicher 
sein, daß die nächsten Wochen eine Intei^ität und Ver¬ 
schärfung des Wahlkampfes hervorbringen werden,, der 
das bisher im „demokratischen" Staate an Wahlagitation 
Gewohnte zumindest erreichen wird. Diese Wahl ist in 
erster Linie eine Kraftprobe der Parteien. 
Was hat die Judenschaft unseres Staates dazu zu 
sagen? Soweit es sich nur um rein politische oder wirt¬ 
schaftliche oder kulturelle Fragen, . losgelöst vön der 
jüdischen Sonderfrage handelt, wäre es das Nahe- 
liegeYxJste, daß die finden als Gesell seh aftsgruppe über¬ 
haupt nicht Stellung zu nehmen hätten. Der Jude, welcher 
Unternehmer oder Vermögensbesitzer ist, würde eine 
bürgerliche Partei wählen, je nach Anschauung ein.e kon¬ 
servative oder eine freiheitliche, der Jude, den seine Idee 
oder seine Klassenlage zum1 Sozialismus treibt, würde sich 
einer der linksseitigen Parteien anschließen. So einfach 
liegt aber die Sache bei uns im deutschen Lande, das 
noch dazu mit dem' Fluche der Erbschaft des Nationali¬ 
tätenstaates Österreich belastet ist, doch nicht. Dazu 
kommt, daß in Wien zumindest die jüdische Bcvölke- 
rungsschichte in solcher Art konzentriert ist, daß mit 
der angeführten einfachen Lösungsformel das Auslangen 
nicht gefunden werden! kann. Dieses jüdische Gemein¬ 
wesen hat bereits eine Reihe von eigenen Angelegen¬ 
heiten und Interessen, die einer Vertretung bedürfen. 
Man hat es im alten Österreich glänzend verstanden, 
dies leidige Judenproblem, das aus allen Winkeln des 
Staatsgebäudas hervorguckte, nicht zum Vorsehein kom¬ 
men zu lassen. Es war aber da und ist geblieben, wenn 
auch etwas gegen die Vergangenheit verschoben. Die 
1 ätigkeit des jüdischnationalen Abgeordneten Stricker 
in der abtretenden Nationalversammlung hat bewiesen, 
daß diejenigen im Unrecht waren, die die Entsendung 
eines bewußt-jüdischen Vertreters in diese Körperschaft 
für ein gefährliches Experiment ansahen und es lieber 
gesehen hätten, wenn statt seiner ein verschämter 
Israelit unter der Flagge eines nicht miehr vorhandenen 
Freisinnes eingezogen wäre. Durch seine mannhafte 
Haltung erlebten wir dias Schauspiel, daß von der ersten
	        
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