Volltext: Nr. 62 (62. 1920)

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Nr. 62 
Linz, am 
11. Juni 
25. Siwan 5680 
1920 
Die Wahl in die Wiener Kultusgemeinde. 
Am 27. Juni ist Wahltag in der Wiener Kultus¬ 
gemeinde. Selbst jetzt, da im Zeitalter der sich drängen¬ 
den Wrahlen in die verschiedenen Vertretungskörper das 
Interesse an solchen Akten zu erlahmen beginnt, kommt 
der Entschließung der Wiener jüdischen Wählerschaft 
über die Zusammensetzung des Kultusgemeinderates eine 
ungewöhnliche Bedeutung zu. 
Die Wiener jüdische Gemeinde, auf Traditionen 
älterer jüdischer Siedlungen fußend, ist im vergangenen 
Jahrhundert aus ganz kleinen Anfängen zu einer der 
größten Judengemeinden der WTelt emporgewachsen. Aus 
allen Teilen der österreichisch-u ngarisehen "Monarchie 
strömte das jüdische Element in die Reichshauptstadt; die 
Wiener Kultusgemeinde wurde zur Führerin der ganzen 
Österreich ischen Judemschaf t. 
Aber die verantwortlichen Lenker der Gemeinde er¬ 
wiesen sich zu ihrem Führeramte nicht allein deshalb in 
der traurigsten Weisse unfähig, weil sie dem neuen Leben 
im alten Stam'me des jüdischen Volkstums beharrlich ein 
Nichtverstehenköinrnen entgegensetzten, sondern auch des¬ 
halb, weil sie überhaupt Grundsätze vertraten, die jedem 
modernen Rechtsgefühl ins Gesicht schlugen. Die Wiener 
Kultusstube, in der durch ein vorsintflutliches Wahlrecht 
vornehmlich Vertreter einer Plutokratie saßen, die mit 
dem Judentum nur ein sehwaches Restchen von Pietät 
verband, während die größere Masse der Gemeindemit¬ 
glieder kaum oder gar nicht zu Worte kommen konnte, 
wurde zur Herberge vermoderten, vermorschten Geistes, 
sur Stätte von Gesinnungen, die jede Fortentwicklung 
töten mußten. 
Vergebens lief das junge Judentum gegen dieses 
Bollwerk einer wahren Reaktion Sturm, bis auch hier die 
Revolution des Jahres 1918 ein wenig Luft machte. Aber 
tnit ekiier Zähigkeit, wie sie nur dem Sterbenden eigen 
ist, klammerte sich die bisherige Majorität des \ orstan- 
des an ihre Sitze, die sie nach längst abgelaufener Man¬ 
datsperiode schon seit Jahren hätten räumen müssen. Die 
wenigen zionistischen Vertreter führten einen langwieri¬ 
gen Kampf gegen diese Clique, die durchaus nicht als Re¬ 
präsentanz einer scharf umrissenen Partei sich darstellt, 
sondern als die Vereinigung von Abgeordneten des Hoch¬ 
muts, Eigendünkels und der Kurzsichtigkeit. Inzwischen 
verfielen die zahlreichen schönen Institutionen der Ge¬ 
meinde. Die Finanzlage, durch Unfähigkeit und den nian¬ 
gelnden Willen, neue Geldquellen zu eröffnen, gänzlic i 
erschüttert, bewirkte, daß die Spitäter und \ ersorgungs- 
anstalten vor der Sperre stehen, daß die Gemeindebeam¬ 
ten und Lehrer bis zum Streik getrieben wurden. Endlich 
kam ein neues Wahlrecht zustande, das in unserer demo¬ 
kratischen Zeit sich noch recht altertümlich ausnimmt. 
Die verschiedenen Praktiken, defai Wahltag bis in den 
Herbst zu verschieben, wurden vereitelt. Und so werden 
am 27. Juni jene Wiener Juden, welchen das beschränkte 
Statut das Wahlrecht gewährt, zur Urne schreiten, um 
ihr Votum über das fernere Geschick ihrer Gemeinde ab¬ 
zugeben. 
Drei Gruppen stehen sich gegenüber. Die Zionisten 
treten mit einem scharf umrissenen Programm auf den 
Plan. Sie wollen die Wiener jüdische Gemeinde einge¬ 
gliedert sehen in die größere Gemeinde des jüdischen 
Volkes. Ihr Aufgabenkreis erweitert sich zur umfassen¬ 
den Organisation in allen jüdischen Angelegenheiten. Da¬ 
bei soll junger, neuzeitlicher Geist das Gemeinwesen er¬ 
füllen. Die Agitation dieser Partei ist, der Wichtigkeit 
des Sieges entsprechend, schon heute recht lebhaft und 
in zahlreichen öffentlichen Versammlungen: zeigt es sich, 
daß die lebende, werbende Kraft des jüdischen Volks¬ 
gedankens die Zustimmung der jüdischen Bevölkerung 
Wiens erweckt. 
Dem gegenüber arbeitet die zweite Gruppe fast nur m t 
dem Kampfmittel deö durch die Post bestellten l^lug- 
zettels. Das „Komitee der nichtjüdisehm/ationalen Wähler¬ 
schaft" drückt schon durch seinen Namen aus, daß ihm 
ein positives Programm mangelt, und daß es seine 
Tätigkeit nur in der Verhinderung eines Wahlsieges der 
Zionisten erschöpft sieht. Trotzdem wird auch von dieser 
Seite zugegeben, daß das bisherige Regime in der Kultus¬ 
gemeinde nicht weiterbestehen darf. Was die Opposition 
gegen die Zionisten zusammengebracht hat, ist lediglich 
die Furcht, daß die zionistische Doktrin von der jüdischen 
Nationalität die staatsbürgerliche .Stellung der Juden ge¬ 
fährden könne. Mit diesem Argument wird denn auch 
reichlich gearbeitet. 
Eine eigene Liste stellt die orthodoxe Gruppe auf; 
wiewohl die Misrachisten mit den Jüdischnationalen Hand 
in Hand gehen, haben es die Orthodoxen für nötig ge¬ 
halten, gesondert vorzugehen; sie fürchten, die Jüdisch- 
nationalen würden sich zum religiösen Moment nicht nur 
passiv verhalten, sondern — aggressiv auftreten- 
Für das österreichische Judentum stellt der ahl¬ 
entscheid der Wiener Juden insofern die Entscheidung 
dar, als sich ja zahlenmäßig die beiden Begriffe fast 
decken.
	        
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