Volltext: Nr. 61 (61. 1920)

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Nr. 61 
f . 28. Mai 
L,nZ> am 11. Siwan 5680 
1920 
Der Widerhall. 
Ebenso wie die einzelnen Menschen auf denselben 
äußeren Eindruck verschieden reagieren, so ist es auch 
natürlich, daß die einzelnen Gruppen und Parteien inner¬ 
halb des Judentums der historischen Tatsache, die in 
den letzten Wochen für das jüdische Volk geschaffen 
wurde, verschieden gegenüberstehen. Daß in den zio¬ 
nistischen Kreisen die Verkündigung des Beschlusses von 
San Remo einen iSo lauten und freudigen Widerhall aus¬ 
gelöst hat, kann nicht wundernehmen. Bei aller Erkennt¬ 
nis, daß die Judenfrage in erster Linie eine innere 
Schicksalsfrage des jüdischen Volkes ist und ihre Lösung 
nur durch die ihm innewohnende seelische Kraft und 
Fähigkeit finden kann, gehört doch schon seit Herzl die 
Anerkennung der jüdischen Rechte durch die Welt zu 
den Fundiamentalforderungen der zionistischen Organi¬ 
sation. Wenn man» bedenkt, daß die diplomatische Vor¬ 
bereitung der jüdischen nationalen Heimstätte gerade die 
hervorragendste Arbeit des großen Führers war, die seine 
besten Kräfte bis zu seinem Tode in Anspruch nahm, 
dann wird man begreifen, daß die zionistische Organi¬ 
sation in der nun endlich erfolgten Anerkennung ihres 
Strebens durch den Völkerbund mit Recht eine ^ tief¬ 
gehende Zäsur in ihrer Tätigkeit erblickt, die sie zu 
einem kurzen Verweilen und fröhlichen Betrachten des 
zurückgelegten Weges einladet. Gewährte die BalfouT - 
sehe Erklärung vom 2. November 1917 die Anwartschaft 
auf eine jüdische Heimstätte, so datiert von San Remo 
das unmittelbare Recht auf diese her, ein Recht, an dem 
nun wohl nicht mehr zu deuteln ist. Der Jubel in den 
Kreisen der Zionismen ist also nicht nur echt, sondern 
auch vollkommen begründet. Inzwischen wurde vertaut- 
bart, daß Sir Herbert Samuel;, der ein ebenso bedeutender 
englischer Staatismann wie ein aufrechter Jude und 
Zionist ist, zum Gouverneur vom Palästina ausersehen 
sei. Eine Garantie mehr, daß man ernstlich gewillt ist, 
mit der Errichtung der öffentlichrechtlich gesicherten 
nationalen Heimstätte Ernst zu machen. 
Wenn Skeptiker der Völkerbunderklärung über 
Palästina nicht allzuviel Wert beimes-sen, weil sie die 
Widerstände fürchten, die unabhängig von San Remo 
und dem dort geäußerten Willen der europäischen Gro߬ 
mächte sich dem jüdischen Volk entgegenstellen können, 
so wollen sie nicht die Bedeutung der Tatsache herab¬ 
mindern, sondern sie sehen eben nur über diese hinweg 
und richten jetzt schon bereits ihr Augenmerk auf die 
Wegsteile, die sich nunmehr erhebt. Aber die Freude 
eindämmen zu wollen, welche die größten und besten 
Teile des jüdischen Volkeis erzittern macht, fällt, ihnen 
nicht ein; höchstens daß sie, gerader in Erkenntnis, der 
noch bevorstehenden Mühsale, die seelische Spannung 
der letzten Tage für die zukünftige Aufgabe kompri¬ 
nderen wollen. 
Auch nicht die Lauen sind hier so sehr gemeint, die 
Gleichgültigen und die kurzsichtigen Selbstlinge, die 
alle an dem Geschehen ihrer Tage vorbeigehen, ohne daß 
ihr Herz erschüttert wird, für die nicht« auf der Welt 
ist, was sie nicht unmittelbar tangiert. Das ist die 
Armee jener, die sich dem Zionismus nicht deshalb nicht 
angeschlossen haben, weil seine Auffassung der jüdischen 
Existenz sich mit ihrer nicht deckt, isondern weil sie 
überhaupt keime haben, weil sie ohne jede höhere Emp¬ 
findung, ohne Begeisterung als höchstens die für ihren 
eigenen unmittelbaren Wanst und Vorteil, die Welt als 
ein Kaffeehaus ansehen. Ihnen sin£ Judentum, Zionis¬ 
mus und Erlösung nur Begriffe, für die geschnorrt wird. 
Alle anderen aber, mögen sie nun auch der zioni¬ 
stischen Doktrin ferne stehen, haben, wenn sie nur in 
ihrem Herzen einen Funken von Idealismus, in ihrem 
Kopfe ein wenig Sinn für das Grandiose sich erhalten 
haben, in den Tagen, da die Zionisten über San Remo 
jubelten, still und ernst aufgemerkt und der Größe des 
Moments den Zoll nicht versagt. 
Aber es gibt noch andere Käuze. Die stehen in den 
Ecken und blicken angstvoll auf die Entwicklung der 
jüdischen Geschichte. Sie sehen, wie der Zionismus 
immer weiterschreitet, wie sich Erfolg an Erfolg reiht, 
wie das jüdische Schicksalsschiffchen unter dieser Flagge 
dem Hafen zueilt und panischer Schrecken erfaßt pie. 
Nicht vornehm und stolz gönnen und wollen sie kapitu¬ 
lieren, sie wollen nicht die ihnen lieb gewordenen gall¬ 
bitteren Sätzchen und Theorien revidieren und so gießen 
sie eine Flut geifernden Hasses aus, zerren die Ideale 
der anderen in den Kot, wollen Wermut in die Freude 
ihrer Volksgenossen spritzen. Sie drapieren sich mit 
dem Mantel der wohlmeinenden Warner und glauben, 
man sieht nicht, wie ihnen die scheue Angst aus den 
Augen blickt, daß sie schließlich ihre eigenen Argu¬ 
mente als unrecht erklären werden müssen. Das sind 
nicht die Unkenrufe Kleinmütiger, sondern dais Geschrei 
von Kindern, die aus einer Gesellschaft Erwachsener 
plötzlich zu Bett gehen sollen. 
Während sogar der Wiener Kultusvorstand sich dem 
Eindruck der Nachricht aus San Remo nicht verschließen 
konnte und in einer Resolution als Repräsentanz einer
	        
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