Volltext: Nr. 57 (57. 1920)

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2. April 
Nr.57 
14. Nissan 5680 
Passah-Betrachtungen. 
Die Symbolik jüdischer Feste liebt es zuweilen, die 
Sinnbilder der Erinnerung an bedeutsame Geschehnisse 
im nationalen und sittlichen Werdegange des jüdischen 
Volkes mit solchen aus dem Schöpfungsbereiche der 
ewig wirkenden Natur zu vereinen. Fehlt auch im 
Rituale der Passah-Feier der direkte Hinweis auf das 
gleichzeitige Wiedererwachen aller lebenspendenden 
Kräfte der organischen Welt, so erhöht auch ohne diesen 
Hinweis in empfänglichen Gemütern das beglückende, 
ewig unergründliche Wunder des Frühlings, das sich im 
Monat Nissan vor unseren Sinnen vollzieht, die Weihe 
und Heiligkeit tausendjähriger Traditionen. In die fest¬ 
lichen Auferstehungstage der Natur fällt auch die F estes- 
feier unserer einstigen Befreiung. 
Freiheit! Ihr lockender Ruf entflammte in allen 
Zeitaltern der Menschheitsgeschichte viel ehrliche Be¬ 
geisterung, viel entsagungsvollen Opfermut. Dem 
Streben, diese Welt zu einer Stätte wahrer Freiheit zu 
gestalten, widmeten die Besten aller Zeiten allen Herois¬ 
mus, dessen Menschenherzen fähig sind — doch bis heute 
noch muß unerlöst ihr Geist auf Gräbern irren. Woher 
die erschütternde Tragik der Fruchtlosigkeit aller An¬ 
strengungen ? Woher das Mißverhältnis zwischen Er¬ 
reichtem und Ersehntem? 
Dürfen wir es wagen, an den lauteren Absichten, an 
dem reinen Wollen jener mächtigen Rufer im Streite zu 
zweifeln, die kraft der elementaren Wucht ihrer über¬ 
zeugenden Argumente den festgefügten Bau jahrhun¬ 
dertealter, in alle Menschengehirne gehämmerter Welt¬ 
anschauungen ins Wanken brachten und Licht und Luit 
und freier, unbefangener Erkenntnis Breschen schlugen? 
Niemals! Sie waren Heilige und büßten oft genug 
mit ihrem Leben ihre Menschenliebe ; aber die nach ihnen 
kamen, waren Bösewichte, hartherzige, lieblose, berech¬ 
nende Egoisten, die die entfesselten Kräfte ihren Zwecken 
dienstbar machten, am entfachten I euer sich ihr üppig 
M,#hl bereiteten und aus Freiheitsbäumen Throne und 
Altäre zimmerten. 
Wann immer im wechselvollen Verlaufe nationaler 
und sozialer Kämpfe ein freiheitlicher Gedanke siegreich 
sich behauptete, frohlockten unverbesserliche Optimisten 
unter uns und wähnten, nun sei auch endlich fiii uns 
Juden die Stunde der Erlösung nahe. Alle bitteren 
Enttäuschungen, die die Alleinherrschaft des Liberalis¬ 
mus, die Führer rolle sozialistischer Politiker in unserem 
öffentlichen Leben diesen weltblinden Visionären bereitet 
hatten, vermochten trotzdem nicht, in ihnen die Erkennt¬ 
nis zu reifen, daß die Freiheit, die wir brauchen, keines¬ 
falls als ein Gnadengeschenk großmütiger Mächtiger von 
demütig Dankenden empfangen werden kann. Zu tief 
muß für die neue Saat gepflügt werden, als daß kraftlose 
Menschen mit gebeugtem Rücken' dabei Arbeit* leisten 
könnten! Nichts darf geschehen zur Erweiterung der 
Einflußsphäre einzelner, hochmögender Existenzen 
jüdischer Herkunft, die zur Befriedigung persönlicher 
Eitelkeit gelegentlich einmal auch Interesse für jüdische 
Angelegenheiten heucheln; sie verwahren sich ohnehin 
energisch gegen die Zumutung irgendwelcher Gemein¬ 
samkeiten mit gewöhnlichen, namenlosen J uden und 
haben sich mit ihrem Judentum nur ausgesöhnt, wie man 
in Gottes Namen trägt, was einem das Geschick beschert. 
Sie haben uns zu allen Zeiten mehr geschadet als genützt; 
denn aller Neid und alle Feindgefühle, die Geld und 
Unabhängigkeit gewisser jüdischer Gesellschaftskreise bei 
unseren mißgünstigen Widersachern weckten, kehrten 
sich in doppelter Erbitterung gegen uns und nahmen uns 
den Bissen Brot vom Mund und raubten uns die Luft 
zum Atmen, weil sie am gut fundierten Bau der kartel¬ 
lierten Macht trotz zähester Angriffsenergie in ohnmäch¬ 
tiger Wut zerschellten. lind trotzdem galten diese 
jüdischen Aristokraten feiner hoffentlich für immer der 
Vergangenheit angehörenden Epoche jüdischer Unkultur 
als unsere berufensten Vertreter, als die geeignetsten 
Interpreten unserer Bitten und Beschwerden bei Regie¬ 
renden und Behörden und auf sie richteten sich in 
düsteren Tagen die erwartungsvollen Blicke aller 
Zagenden. 
Heute wissen wir bestimmt, daß aus ihren Reihen 
kein Messias uns erstehen wird. Auch in den dunkelsten 
Zeiten jüdischer Geschichte lebten Juden in Palästen und 
das Elend ihrer Brüder diente ihnen nur als Folie. Heute 
hat unser Ehrgeiz andere Ziele, als zum Glanz und An¬ 
sehen Einzelner beizutragen mit der schüchternen Hoff¬ 
nung, daß ein schwacher Abglanz ihres Ruhmes dann 
auch unserem Dunkel leuchten werde. Heute gehen wir 
andere Wege. Nicht unter Berufung auf hohe Protek¬ 
toren, nicht durch Vermittlung weitreichender Bezie¬ 
hungen hoffen wir zu Recht und Freiheit zu gelangen. 
Unser Wille zu ehrlicher Arbeit, unser gutes Gewissen 
und der Wunsch, mit jedermann in Frieden zu leben, 
sind unsere einzigen Ressourcen; unser Ziel: dem ver¬ 
unglimpften, heimatlosen jüdischen Namen wieder Bür¬ 
gerrechte zu erwerben in den Herzen aller rechtlich Den¬ 
kenden und den schweren Kampf gegen Mißgunst, Vor- 
	        
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