Volltext: Nr. 56 (56. 1920)

y 4 
Redaktion 
und Administration 
Linz 
Franz losef« Platz 29; 
Telephon 1225/11. 
Ersch eint 
jeden Freitag. 
JODISCHE 
NACHRICHTEN 
pars 
Bezugspreis: 
'/Jährig K 12 -. 
Bankkonto bei der 
Allg Depositenbank, 
Filiale Linz. 
Postsp ■ rkri (Tenkonto 
Jr. 180.454. 
Inserate: 
jj Die Spaltenbreite pro 
i| Miliimeterhöhe 50 h 
für die österreichischen Alpenländer. 
Nr. 56 
Linz, 
am 
19. März 
29. Adar5680 
1920 
Die Einheit des jüdischen Volkes. 
Wer mit gebührender Aufmerksamkeit die Berichte 
über die im Vormonsrte tagenden Sitzungen des Großen 
zionistischen Aktionskomitees verfolgt hat, konnte sieh 
unmöglich dem Eindrucke verschließen, daß diese Tagung 
eine bedeutende und würdige Manifestation des jüdischen 
Volkes darstellte. 
So schwierig es auch sein mag, sich ein halbwegs rich¬ 
tiges und zutreffendes Bild von dieser Tagung zu machen, 
so überwiegen doch bestimmte Eindrücke in solcher Klar¬ 
heit und Deutlichkeit, daß auch der fernestehende Beob¬ 
achter sich ihrer in starker Intensität bewußt wird. Vor 
allem ist die Tatsache, daß wieder eine interterritoriale 
Beratung mit Zuziehung von Delegierten aus „feind¬ 
lichen^ Staaten möglich ist, so erfreulich, daß man gerne 
anfängt zu vergessen, daß es eine Zeit der alles unter¬ 
bindenden Völker Verriegelung gegeben hat. Von aller 
Herren Länder kamen die Vertreter der zionistischen 
Organisationen nach London, und allen wurde ein gleich 
herzlicher Empfang zuteil. 
Bedeutet dieser Umstand einen gewaltigen Fort¬ 
schritt auf dem Wege zur Volkerversöhirung nach dem 
unseligen Weltkrieg, so ist es für uns Juden geradezu er¬ 
hebend, zu wissen, daß sich in London eine Versammlung 
zusammengefunden hat, die geradezu die Elite des jüdi¬ 
schen Volke« darstellt. Mit Ausnahme der amerikanischen 
Persönlichkeiten, welche noch nicht vertreten sind, um¬ 
faßt in der Tat das große Aktionskomitee, die hervor¬ 
ragendsten Männer der Politik und der Volkswirtschaft, 
die das Weltjudentum aufzuweisen hat. Ans allen Welt¬ 
feilen beschickt, wies die Versammlung eine Mannigfal¬ 
tigkeit sondergleichen auf. Jeder einzelne mit den be¬ 
sonderen Erfahrungen der letzten dornenvollen Jahre be¬ 
sehwert, einem jeweils verschiedenen Milieu entstam¬ 
mend, in der Einflußsphäre des ihm zugeordneten Wirts¬ 
volkes lebend, stellt so jedes Mitglied des A. C. so recht 
den Typus desjenigen Völksteiles dar, der ihn entsendete. 
In ihrer Buntheit und Mannigfaltigkeit war diese Ver¬ 
sammlung so recht diejenige der Vertreter des ganzen 
jüdischen Volkes, desjenigen jüdischen Volkes, das in 
dieser glänzenden Versammlung seine eigene Einheit 
wieder spiegeln sah. 
Doch nicht nur äußerlich und in formeller Bezie¬ 
hung war diese Einheit wieder hergestellt worden. Was 
viel mehr besagen will und auch die Pessimisten unter 
uns mit neuem Glauben und neuer Hoffnung erfüllen 
muß, auch die innere Einheit hat sich in geradezu 
glanzvoller Weise dokumentiert. Es ist ja nicht unbe¬ 
kannt, daß infolge der langen Trennung dieser führen¬ 
den Männer, den lokalen und sozialen Umständen ent¬ 
sprechend sich im Laufe der Jahre divergierende An¬ 
schauungen herausgebildet hatten, daß manches der Mit¬ 
glieder des großen Aktionskomitees einen gegensätzlichen 
Standpunkt der Zionistischen Leitung* gegenüber ein¬ 
nahm, daß viele mit der Absicht nach London gefahren 
sind, um ihre besonderen Wünsche, Beschwerden, ihre 
Unzufriedenheit an berufener Stelle zum Ausdruck zu 
bringen; man war bei Beginn der Tagung auf eine starke 
Opposition gefaßt, welche es sich selmldig zu sein glaubte, 
in energischer Weise gegen die Leitung aufzutreten. Und 
was geschah in Wirklichkeit? Wie der Schnee in der 
Märzsonne zerschmolz aller Groll, verschwanden alle die 
kleinen und großen Unstimmigkeiten angesichts der Tat¬ 
sachen und der Informationen, welche die zionistische 
Exekutive zu geben imstande war. Allseitige Bewunde¬ 
rung, Dankbarkeit und Anerkennung wurde den beiden 
Männern gezollt, welche zu rechter Zeit am rechten 
Platz waren, und sich mit der ganzen Kraft ihrer Per¬ 
sönlichkeit in den Dienst des jüdischen Volkes stellten. 
Selbst der greise Dr. Nordau, der gleichfalls der Leitung 
sehr skeptisch gegenüberstand, erklärte mit Genugtuung : 
Dr. Weizmann und Sokolow haben ausgezeichnete Arbeit 
getan. 
Es wird nicht allzuoft vorkommen, daß in einet Ver¬ 
sammlung, die so heterogene Elemente vereinigt, eine 
derartige Harmonie der Geister herrscht, wie es hier der 
Fall war. Was Weizmann über sich und Sokolow sagte, 
kann füglich für das ganze Große Aktionskomitee gel¬ 
ten: „Wenn es Unterschiede gab, so waren es Unter¬ 
schiede des Temperamentes." Die einheitliche große Idee, 
die gemeinsame Begeisterung und der unerschütterliche. 
Wille, das winkende Ziel zü erreichen, vermochte trotz 
aller Verschiedenheit diese bedeutende Versammlung zu 
einer wundervollen Einheit zusammenzuschmelzen. 
Alle diejenigen, die sich nicht genug tun können im 
Prophezeien, die da meinen, daß der negative Kritizismus, 
der überwuchernde Individualismus im jüdischen Geiste 
keine einheitliche, aufbauende, schöpferische Leistung ge¬ 
statten würde, sind durch diese Tagung ad absurdum ge¬ 
führt. Große Geister suchen wohl eigene Wege, aber sie 
finden sich vor dem gemeinsamen Ziele. 
Die Londoner Tagung, die sicherlich auch für die 
ferneren Beratungen der jüdischen Volksvertretung bei¬ 
spielgebend sein wird, wird in allen jüdischen Kreisen, 
die sie zu würdigen verstanden, den nachhaltigsten Ein¬ 
druck erweckt haben, Aber nicht pur passiv sollten wir
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.