Volltext: Nr. 51 (51. 1920)

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für die deutschösterr. Provinz. 
Nr. 51 
Linz. am 
30. Jänner 
' 10. Schebat 5680* 
1920 
n 
Vom jüdischen Leben in Italien. 
Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Monar¬ 
chie hat für den größeren Teil ihrer jüdischen Bürger 
nur eine Verschlechterung ihrer Lage zur Folge gehabt. 
Von den Nationen, die sich in das Erbe des Habsburgei- 
reiches teilten, weitteifern vor allein die östlichen, I ölen 
und Rumänen, in den Feindseligkeiten gegen die -luden, 
die nunmehr ihrem selbständigen Staatsgebiet zugefallen 
sind, und unter dem Eindruck der zusammengebrochenen 
Asiprationen zeigen nun auch die Magyaren ihr wahres 
Gesicht und lassen ihr nationales, nicht unverschuldetes 
Unglück die Juden vergelten. , , , 
Ganz anders jedoch gestaltete sieh das Schicksal der 
Juden in jenen Gebieten, die an Italien gelallen sin. 
Es ist ja bekannt, daß gerade Italien unter lenen Lan¬ 
dern an erster Stelle stand] wo die jüdische Bevölkerung 
tatsächliche und nicht nur papierene Gleichberechtigung 
und die freiesten Bedingungen zu ihrer Entwicklung 
fand. Und man hat auch nicht gehört, daß diese vor¬ 
zügliche Lage vorn italienischen Volke jemals als be¬ 
kämpfenswert empfunden wurde. Die Juden der Apen 
ninenhalhinsel, schon seit Jahrhunderten ein hervorragen¬ 
der Zweig unseres Volkes, haben seit dem Bestände des 
italienischen Königreiches demselben mehrere und um¬ 
deutende Staatsmänner zur Verfügung »teilen können, 
*ie haben sich in der wissenschaftlichen und militärischen 
Welt des Staates gleich hervorragende Stallungen er¬ 
rungen. Dabei ist kaum in einem anderen Lande <!ie 
Zahl der Juden verhältnismäßig und absolut so gering 
als in Italien, beträgt sie doch nur etwa 60.000 unter 
einer Gesamtbevölkerung von annähernd 40 Millionen. 
Wenn irgend etwas die Behauptung zu widerlegen 
geeignet ist, daß die zionistische Bewegung nur eine he- 
aktion auf den Antisemitismus sei, so ist es der gro߬ 
artige Schwung, mit dem in letzter Zeit die italienischen 
Juden die Bestrebungen des Zionismus aut den ' 
ihrer Ideale erhoben haben. Sie, ein unter den glück¬ 
lichsten Daseinsbedingungen lebendes Glied der jüdischen 
Gemeinschaft, erklären enthusiastisch ihre Zusammen¬ 
gehörigkeit mit dem ganzen Volkskörper und die von 
keinem Haß der Umgebung getrübte Liebe zu dem ,ande, 
das ihnen wirklich zum zweiten Vaterlande geworden 
int, hindert unsere Brüder im Königreiche Italien nie t, 
laut und öffentlich sich mit dem Streben nach einer recht¬ 
lichen Fixierung des jüdischen Volkstums solidarisch zu 
In den meisten jüdischen Gemeinden Italiens haben 
vor kurzem Neuwahlen stattgefunden und die Beuchte, 
die uns-darüber zukommen, geben ein schönes Bild von 
stolzem Gemeinsinn. In Florenz errang der zionistische 
Gedanke einen glänzenden Sieg: nur drei von den ■■'an- 
daten in dieser Gemeinde fielen den Anhängern der tru¬ 
her am Ruder gewesenen Partei zu, aber die vornehme 
Haltung, mit der die italienischen luden ihre <■ eistes- 
kämpfe auszutragen gewohnt sind, führte dazu, dab auch 
diese Minorität sich an den Arbeiten zum allgemeinen 
Wohle beteiligen wird. Der npue Gemeinderat der israeli¬ 
tischen Kultusgemeinde von Florenz hat anläßlich 
«eines Amtsantrittes ein Zirkulurtelegrämm an alle Kul¬ 
tusgemeinde« Italiens gerichtet, das wohl verdient a s 
hervorragendes Beispiel jüdischen Solidaritatsgetiih Is 
a neb über die Grenzen des Königreiches hinaus bekannt 
zu werden. Die israelitische Gemeinde von Florenz ent¬ 
bietet durch ihre neue Repräsentanz den italienischen 
Schwestern ihren Gruß und während sie ihre Aufgabe 
darin erblickt, jedeiiort.s für die ideale geschichtliche 
Einheit des 'jüdischen Volkes einzustehen, ruft sie sie 
mr Vereinigung auf, damit gemeinsame Arbeit die neuen 
Geschicke der jüdischen Nation auf der Erde ihrer Vor- 
fahren vorbereiten möge. 
Auch in der jüdischen Gemeinde von Rom haben 
sich nach einem Vornehm durchgeführten Wahlkampf 
die beiden Parteien auf dem Boden eines Minimalpro¬ 
gramms gefunden, ohne die weitgehenden Ziele aus dein 
Auge zu verlieren. In der ersten Sitzung betonten die 
Wortführer beider Gruppen, das Bestreben, den Sitz des 
Volkes auf das Erbe der Väter zu verpflanzen und die 
Tradition zu bewahren, damit von dort aus das Licht des 
Judentums sich über die ganze Welt verbreite. Das Ei- 
waehen des jüdischen Selbstbewußtseins erlege den Juden 
besondere Pflichten eines eifrigen jüdischen Studium«, 
die Würde eines öffentlichen Lebens und der Pflege der 
Wohlfahrtsinstitute auf. Wie ernst man diese Pflichten, 
nimmt, beweisen die reichlichen Zuwendungen, die den 
Kabbinatskollegien zuteil werden, die Gründung einer 
Schule für die Kinder der ärmeren Klasse; das Defizit 
im Gemeindehaushalt deckten die Gemeinderäte durch 
spontan geleistete freiwillige Beiträge. 
Wie Neid muß es sich im österreichischen Juuen 
regen, wenn er Einblick erhält in das freie und iein< 
Leben, das in den jüdischen Gemeinden Italiens pulsiert. 
Daß die Bevölkerung unseres Staates in ihrem blinden, 
rückschrittlichen Antisemitismus hinter dem Italiener 
zurücksteht, ist ein Umstand, der uns nicht allein in 
, unserem eigenen Interesse, sondern auch als ehrlicne 
Staatsbürger kränken kann, aber hierin Wandel zu
	        
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