Volltext: Nr. 40 (40. 1919)

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für die deutschösterr. Provinz. 
Nr. 40 
. 14. November | 1010 
Linz, am 22. March. 5680 | 
T 
Epilog zur Geburtsfeier der Republik. 
Gewöhnlich kommt man zu einem Wiegenfeste nicht 
mit leeren Händen: Das Geburtstagskind vom vorigen 
Mittwoch jedoch sah nur eine Reihe von zweifelhaften 
Gratulanten an sieh vorüberziehen und statt der Ge¬ 
schenke flogen ihm ungezählte Wunschzettel auf den Ga¬ 
bentisch; und wie viele von denen, die mit süßsaurer 
Miene das Wiegenfest mitfeierten, haben dem jungen 
rlubilanten insgeheim den Tod gewünscht. Iis gibt wohl 
keinen Bürger unseres jungen Staates, der nicht die Er¬ 
wartungen, die er in ihn gesetzt hat, enttäuscht sähe. 
Links und rechts ist man mit ihm unzufrieden, und es 
ist nieht schwer zu erkennen, daß beiderseits starke leii- 
denzen wirken, die^eine radikale Umwandlung des Staats¬ 
wesens anstreben. 
Auch die Judenschaft Deutschösterreichs mußte am 
Jahrestag der Republikerklärung sich gestehen, daß der 
neue Staat ihr nicht das gebracht hat, was sie von ihm 
erwarten konnte, nachdem der alte es ihr schon durch 
Jahrzehnte vorenthalten hat. Schon die wirtschaftliche 
Schichtung der jüdischen Bevölkerung allein bewirkt, 
daB sie fast zur Gänze von der trostlosen Lage hart her¬ 
genommen ist. Der jüdische Mittelstand leidet nicht we¬ 
niger als der nichtjüdische an den Folgen der Vermögens¬ 
vernichtung durch die Entwertung der Krone, der jü¬ 
dische Angestellte und Arbeiter sieht sich von den glei- 
| chen unheilvollen Folgen der Arbeitslosigkeit betroffen 
wie'das übrige Proletariat und die drückenden Lebens- 
| Verhältnisse lassen bei Jud' und Christ nur wenigen Ele¬ 
menten die Möglichkeit, aus dem vollen zu leben. Aber 
auch unsere politischen Forderungen sind kaum der Er¬ 
füllung näher gekommen. Die Freiheit der Republik kam 
anscheinend nur dem Antisemitismus zugute, der mit 
einer beispielslosen Frechheit Deutschösterreich zum 
Tummelplatz seiner Qner treib ere ien gewählt hat und da¬ 
durch diesen Staat beinahe auf gleiche Stufe mit dem 
| Friedrichschen Ungarn und mit Polen stellte. Man hat 
noch immer nicht gehört, daß es der schwachen Wiener 
Regierung gelungen wäre, die berühmte Gleichberechti¬ 
gung, auf die seit 1867 die österreichischen Juden mit 
beiliger Scheu blicken, tatsächlich durchzudrücken, wenn 
Huch angeblich diese Regierung von Juden ganz durch¬ 
setzt ist, 
Nein, auch wir können ein gehöriges Maß von Wün¬ 
schen unterbreiten. Aber die Juden Deutschösterreichs 
stehen denn doch auf einem anderen Boden als die vielen, 
die das Geburtstagskind der vorigen Woche ,,begrüßten . 
Wenn auch im neuen Staate ■ Fehler gemacht worden 
sein mögen, die Haltung gewisser Parteien, die den Staat 
bekämpfen, statt an ihm mitzuarbeiten, die mit wider¬ 
licher Feigheit ihn mit dem Messer bedrohen, da er sich 
in Krämpfen windet, kann kein Jude mitmachen. 
Wir Juden waren niemals Anhänger der Monarchie, 
weil uns diese Staatsform als die alleinseligmachende er¬ 
schien,— im Gegenteil, wir konnten gerade am besten 
die Auswüchse eines nur im Mittelalter wurzelnden, auf 
lediglich historischen Zusammenhängen ruhenden politi¬ 
schen Systems erkennen, — wohl nur wenige von uns 
sind um des Kaisers willen ins Feld gezogen, sondern wir 
haben früher unsere Pflicht erfüllt, und so wollen 
•wir es auch heute halten. Der neue Staat, der unter so 
schwierigen Verhältnissen seine funktionell erfüllen 
muß, sieht so viele Feinde unter seinen eigenen Glie¬ 
dern, während er doch gerade auf deren Unterstützung 
Anspruch erheben könnte. Seine jüdische Bevölkerung, 
die trotz aller antisemitischen Lügen auch heute noch 
sein Stiefkind ist, weiß aber, was jetzt die erste Bürger¬ 
pflicht ist. j 
Schadet der jüdische Nationalismus den 
Juden?* 
Von Abg. Rob. Stricker. 
Von dem Zeitpunkte an, als das jüdische Volk aus 
seiner Heimat Palästina vertrieben worden und in die 
Verbannung und Zerstreuung geraten ist, hat es auch 
aufgehört, nationale Politik zu treiben. Die Juden 
haben sich ihre Eigenart gewahrt, sie haben sich als 
Heimatlose und Landflüchtige noch inniger an ihr \ olks- 
tum geschmiegt, sie haben sich in Denkart und Lebens¬ 
führung immer von der Umgebung bewußt ferngehalten. 
Aber sie sind nicht mehr dazu gekommen, den anderen 
Völkern gegenüber als Volk politisch aufzu¬ 
treten und für sich als nationalen Organismus, als 
völkische Gemeinschaft politische Rechte zu fordern. Sie 
haben, einzeln oder gruppenweise, im Umherziehen Du 1- 
d u n g und S c h u t z gesucht, erbeten oder erkauft. 
Nationalpolitische, das heißt zielbewußte, auf Erlangung 
von Rechten für das gesamte jüdische Volk gerichtete 
Arbeit haben sie nicht betrieben. Vor der Erlangung der 
bürgerlichen Gleichberechtigung konnten sie es nicht, 
nachher wollten sie nicht. Erst gegen Ende des 19. Jahr¬ 
hunderts hat die aktive nationaljüdische Bewegung eiti- 
* Aus der im Verlage der „Wiener Morgenztg. erschienenen 
Broschüre von Abg. Ing. Stricker: „Der jüdische Nationalismus 
*
	        
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