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JÜDISCHE
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für die deutschesten1. Provinz,
1«
Nr. 38
31. Oktober
Linz, am March< 568()
1919
Judendebatten.
Die vergangene Woche brachte wieder des öfteren
die Judenfrage aufs Tapet. Viel Aufsehen erregte vor
allem der Antrag Stricker in der Nationalversamm¬
lung, daß bei der in der nächsten Zeit stattfindenden
Volkszählung auch das Bekenntnis zu einer'Nation abzu¬
verlangen sei, wobei es den Juden freistehen müsse, sich
tfiir jüdischen Nation zu bekennen. Die Aufregung, die
dieser Antrag nicht nur bei den sozial demokratischen Ab¬
geordneten,-sondern auch in einem Teile der Judenschaft
hervorrief, ist nicht recht erklärlich, denn ganz richtig
antwortete der Antragsteller dem Staatskanzler Dr. Ren¬
ner, der die Existenz einer jüdischen Nation leugnet, daß
gerade^ die sozialistische Internationale auf ihrer letzten
Konferenz zu einer gegenteiligen Ansicht gelangt sei.
Und die jüdischen Kreise, denen beim Gedanken an das
öffentliche- Bekenntnis zum jüdischen Volke gleich die
Schreckgespenste Prozentnorm, Rechtsbeschränkung,
Ghetto vor Augen traten, übersahen ganz, daß ja aus¬
drücklich nicht mehr verlangt wurde, als daß eben jedem
Juden die Möglichkeit geboten werden solle, sich frei¬
willig zur jüdischen Nation zu bekennen. Daß die
antisemitischen Abgeordneten Stricker zustimmten, ist
natürlich Wasser auf die Mühlen der antinationalen Ju¬
denschaft. Als ob die Jüdischnatiorialen absichtlich und
kurzsichtig die jüdische Gemeinschaft zu ihrem Ruin
führen wollten! Einem Politiker wie Stricker ist genü¬
gend- Einsicht zuzutrauen, daß die von ihm im Sinne des
G esamtjudenvolkes vertretene Forderung nur zu einer
Besserung unserer ungesunden Existenz führen soll,
auch wenn das Mittel auf den ersten Blick die Zaghaften
ein wenig zittere machte.
Aber ganz richtig appellierte Stricker in seiner
wenige Tage später gehaltenen Rede zum Finanzplan, die
schon ob ihrer von hohem "V erständnis für die Lebens¬
notwendigkeiten des Staates zeigenden Sachlichkeit ins¬
besondere bei den Sozialdemokraten starken Eindruck
machte, in Hinsicht der Judenfrage an die historische Ein¬
sieht unserer Staatsmänner. Der Großdeutsche Doktor
Straffner hatte in der Debatte zum Finanzplan die
Gesinnung seiner Partei verraten, indem er nach einem
wüsten Geschimpfe über die Juden sein Bedauern aus¬
brach, daß auf gewisse politische Überzeugungen nicht
die Todesstrafe gesetzt sei. Wir entnehmen Strickers
Antwort folgenden Passus:
„Ich möchte den Herren Antisemiten jetzt sagen:
Es wäre empfehlenswert — und jetzt bitte ich, mich aber
nicht mißzuverstehen — es wäre empfehlenswert, nicht im
Interesse der Juden, sondern im Interesse dieses Staates,
wenn Sie doch in diesem Zeitpunkte das Geschimpfe auf
die Juden einstellen wollten. Schauen Sie, ich bitte nicht
für die Juden, wir Juden sterben an diesem Geschimpfe
nicht und Sie leben nicht von diesem Geschimpfe, aber
es geht um etwas anderes. Sie müssen sich damit ver¬
traut machen, daß Österreich heute nach dem Stande
seiner Zivilisation beurteilt wird! Es mag ja bei Ihnen
als höchst kultiviert und zivilisiert gelten, auf die >1 uden
zu schimpfen, in den Augen der gesitteten Welt gilt da«
nicht mehr so. Sie haben noch Genossen in Ungarn,
Polen und vielleicht bei Koltschak und Denikin. Das
sind aber doch nicht die Leute, von deren Urteil Sie und
Österreich heute abhängig"* sind. Sie hangen heute vom
Urteil der zivilisierten Welt ab. Lassen Sie das) Ge¬
schimpfe doch! Ich bin der letzte, der Ihnen zuredet,
Ihren Antisemitismus preiszugeben, daß Sie gewisse na¬
tionale. Reinigungsbestrebungen, gewisse Läuterungs¬
bestrebungen einstellen sollen. Führen Sie sie meinet¬
wegen durch, aber lassen Sie doch das ohnmächtige
Schmähen, das dieses Parlament draußen nur kompromit¬
tiert und weiter nichts taugt. Ich sage es Ihnen in Ihrem
Interesse. Denn Sie vergessen immer, wer die Juden
sind. Die Juden sind ein Volk, das sechstausend Jahre
lebt. Sechstausend Jahre vermochten uns nicht unizu¬
bringen. Glauben Sie, was ein Titus, ein Nebukadnezar,
was die Perser und was die Römer nicht vermochten, das
wird der
Verein deutscher Postler.
können? I3a täuschen Sie sich doch! Sie können uns
nicht zugrunde richten, weil unser Geschick in ganz
anderen Händen liegt als in den Ihren. 1 )arum bitte ich
Sie, lassen Sie davon ab! ...
Dieser Hinweis des jüdischen Vertreters auf das ge¬
radezu blödsinnige Gebaren gewisser Organisationen, der
viel Heiterkeit erregte, sollte den Antisemiten genügen,
um ihnen das Unsinnige ihrer ganzen Dialektik vor
Augen führen. Denn zu welchen Exzessen niedriger Ge¬
sinnung sich Angehörige selbst der sogenannten gebil¬
deten Stände hinreißen lassen, bewies die am 19. in Linz
tagende Hauptversammlung des deutschösterreichischen
Eisenbahnvereines. Auch bei ihr bildete anscheinend das
Judenproblem clen wichtigsten Punkt der Tagesordnung,
obwohl man sich vergebens fragt, was gerade diese Gesell¬
schaft in solche Wut gegen die Juden hineingehetzt hat.
Über einen Antrag, daß die Regierung aufzufordern sei,
für die Existenz der aus den Sukzessionsstaaten ver-