Volltext: Nr. 36 (36. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 36 
zu bekommen ? Wann wurde Kaftan und Peies abgelegt, 
in dieser, der zweiten, dritten oder schon der vierten 
Generation? All das scheint nicht gar so leicht zu be¬ 
antworten zu sein und die jüdische Geschichte als- Kron¬ 
zeuge angerufen, wird die Frage nicht vereinfachen, wenn 
sie uns erzählt, daß die minderwertigen polnischen Juden 
ehemals am Rhein ansässig waren und die böhmisch- 
miährische, ebenso wie die ungarische Judenschaft im 
Laufe der Zeiten oft Zuzug aus dem östlichen Siedlungs¬ 
gebiete unseres Volkes erhielt. Bei einigem Nachdenken 
wird der „bodenständige", „heimische" Jude seinen 
Dünkel gegenüber dem Ostler wieder in die Tasche 
stecken. Unsere Ansprüche auf das Leben in diesen 
Ländern können sich darauf stützen, daß tatsächlich schon 
in früheren Zeiten und jetzt schon seit Jahrzehnten Juden 
hier wohnhaft und in jeder Hinsicht vollwertige, gemein¬ 
nützig arbeitende Glieder de© Staates, sind; daraus aber 
einen Vorteil für eine jüdische Gruppe zu Ungunsten 
einer anderen herausschlagen zu wollen, ist ungerecht und 
unjüdisch. 
Wenn also Juden sich die neueste Taktik der Anti¬ 
semiten zu eigen machen, so handeln sie verwerflich, aber 
auch sehr unklug. Denn der Judenhaß kennt keine 
Grenzen zwischen Ost und West. 
Der soziale Aufbau Palästinas. 
Von Friedrich Frank. 
(Fortsetzung.) 
II* 
Das System der allgemeinen Nährpflicht und das 
Kolonisationsproblem. 
Sind wir einmal zur Überzeugung gelangt, daß die 
einzig richtige Wirtschaftsart der Sozialismus ist, dann 
müssen wir uns darüber Klarheit verschaffen, welche Or¬ 
ganisationsformen der Gemeinwirtschaft in Palästina am 
schnellsten und sichersten zur Durchführung gelangen 
können. Wenn in Europa die Frage der Sozialisierung 
auch noch so eifrig in Zeitungen, Parlamenten und — 
Betriebsräten ventiliert wird, so bedeutet das noch nicht 
viel mehr als einen ersten, schüchternen Schritt, dem 
nicht sobald ein zweiter folgen dürfte. Anders wird und 
muß es in Erez Israel sein. Die Kolonisation (die Be- 
siedelung) darf nicht ruckweise geschehen, sie muß flie¬ 
ßend erfolgen. Ob viel oder wenig hinüber fließt, der 
Strom darf nicht unterbrochen werden. Um1 dem Strom 
aber Kontinuität zu geben, ist Arbeit, soziale, organi¬ 
satorische Arbeit notwendig. Praktische Maßnahmen, die 
einem bestimmten einheitlichen Plan 
entspringen, müssen erfolgen. Zufälligkeiten und Will¬ 
kürlichkeit müssen so gut wie ausgeschlossen sein. Es 
ist denkbar, daß die großen Fabriken und Landgüter 
Deutschlands noch jahrelang, trotz Betriebsrat und Sozia- 
lisierungsgesetze, in der alten Art weiterarbeiten werden, 
es ist aber nicht gut anzunehmen, daß, wenn zum Beispiel 
neue Kohlengruben entdeckt werden, diese kapitalistisch 
ausgenützt werden. Um noch viel weniger ist es anzu¬ 
nehmen, daß ein ganzes Land, das neu erschlossen wird, 
zu absterbenden Wirtschaftsformen, wie sie die kapita¬ 
listisch-anarchische Methode darstellt, gepreßt wird. Der 
Aufbruch wird in kurzer Zeit erfolgen, er darf dann 
nicht mehr ins Stocken kommen, er muß ziel- und plan- 
* In der Fußnote zum I. Teil dieses Artikels in der vorigen 
Nummer hat sich ein sinnstörender Fehler eingeschlichen- Es 
muß dort richtig heißen: Was in dieser Beziehung jüdische Unter¬ 
nehmer im Stande sind, können die Chaluzim bestätigen .... 
mäßig in eine bestimmte Richtung geleitet werden. Dieser 
selbstverständlichen Grundforderung kann sich niemand 
verschließen. Ein fest uinrissener Plan wird daher not¬ 
wendig, denn damit, daß man sagt, wenn du Geld hast, 
komme und werde Besitzer, wenn du keines hast, so ver¬ 
miete deine Arbeitskraft an den, der dich brauchen kann, 
ist kein Kolonisationsplan aufgestellt. Ebensowenig mit 
allgemeinen Phrasen von sozialer Gerechtigkeit, Gleich¬ 
heit und ähnlichem. 
Wenn ich im folgenden versuchen will, das sozia¬ 
listische System von Ball od und Popper-Link eus auf 
unsere Kolonisation in Palästina zu übertragen, so gebe 
ich mich in Bezug auf die großen Schwierigkeiten nicht 
minder wie auf manche Widersprüche und Unvollkom- 
mienheiten des Systems keiner Täuschung hin. In Wirk¬ 
lichkeit wird irgendwelches System in irgendwelchem 
Lande nur den allgemeinen Grundgedanken abgeben. Die 
Gestaltungs- und Entwicklungsformen wird sich jeder 
Wirtschaftskörper selbst revolutionär geben, aber nicht 
revolutionär empfangen können. 
Die beiden Grundgedanken des Popper'schen Nähr¬ 
pflichtsystems auf Palästina übertragen, geben folgende 
Leitsätze: 
1. Das Recht des Iidividuums auf gesicherte men¬ 
schenwürdige Existenz bedeutet, daß jeder Jude in Palä¬ 
stina das vollste, freiest e Recht zu leben, sich zu ent¬ 
wickeln und seiner Eigenart gemäß zu wirken garantiert 
bekommt. Sollte das ganze Land auf dem Gedanken 
des Nährpflichtsystems aufgebaut werden, so würden 
alle Bewohner in dasselbe einbezogen werden. Nachdem 
dies nicht angenommen werden feann, wird sich die ganze 
soziale Ordnung lediglich auf die jüdische Autonomie 
beschränken. Dies wird neben einem1 feudalen oder klein¬ 
bäuerlichen arabischen Wirtschaftskörper möglich sein, 
was bei der angestrebten nationalen und wirtschaftlichen 
Autonomie des jüdischen Gemeinwesens nicht schwer 
durchzuführen sein wird. Über die Rechte des einzelnen 
wacht der zu einer Zentraloberbehörde des Judentums 
ausgestaltete Jüdische Nationalfonds. 
2. Die Möglichkeit der gesicherten Existenz für jeden 
jüdischen Bürger des Landes wird geschaffen durch die 
Natioiialarmee nach Popper. Das heißt, jeder Jude und 
jede Jüdin wird einen Teil des Lebens (wieviel Jahre 
notwendig sein werden, das hängt von vielen Umständen: 
Dichtigkeit der Besiedlung, Bod^nkultivierung usw., ab) 
in den staatlichen (das heißt Nationtal-Fonds-) Insti¬ 
tutionen des Landes mithelfen, .sämtliche für die Befrie¬ 
digung der Bedürfnisse der Gesamtheit notwendigen 
Güter zu schaffen. Es wird zu diesem Zwecke staatliche 
Landwirtschaftsbetriebe, Fabriken usw. geben, in denen 
die arbeitenden Menschen eingestellt sein werden. Wie¬ 
viel Jahre sie dieser Nährdienstpflicht geben müssen (in 
Deutschland wären es maximal zwölf Jahre), müßte erst 
die praktische Durchführung lehren. Jedenfalls werden 
die ersten mehr, alle folgenden Generationen immer 
weniger zu arbeiten haben. Da die Wirtschaft Palästinas 
es nicht ermöglicht, die Forderung Ballods zu erfüllen, 
alle im Lande benötigten Produkte selbst zu erzeugen 
(Eisen, Kohle, Holz fehlt!), so würde die staatliche 
Bewirtschaftung zum Teil auf Exporte eingerichtet sein 
und auch der Kompensationsverkehr und Import eine 
Angelegenheit der Allgemeinheit bilden, sofern es sich 
um Produkte des alltäglichen Bedarfes handelt. 
3. Durch die kostenlose Arbeit, die jeder jüdische 
Staatsbürger für eine gewisse Zeitspanne in irgend einer 
Form (durch geistige oder manuelle Betätigung — je 
nach Eignung und Bedarf) leistet und für die er in omen-
	        
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