Volltext: Nr. 16 (16. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 16 
Zionisten emsig verfolgte Ziel, der „Schaffung einer 
rechtlich gesicherten Heimstätte für die Juden", geeignet, 
eine Besserung in der Lage unserer bedrängten Glaubens- 
brüder herbeizuführen. Hier teilen wir ganz die 1 foil - 
nungen und Wünsche der Zionisten, obwohl wie ^diese 
selbst zugeben müssen, die Friedensverhandlungen ihnen 
und uns zunächst eine Enttäuschung in dieser Hinsicht 
gebracht haben. WTenn wir auch mit den Zionisten ^ift 
Scheitern oder auch nur eine Verzögerung oder Beein¬ 
trächtigung in der Verwirklichung dieses Problems tief 
bedauern würden, so betrachten wir doch die Haltung dei 
Mächte als einen Fingerzeig für jene, die den Ideal¬ 
zustand in einer nationalen Autonomie der Juden aller 
Länder, ohne Rücksicht auf ihre Zahl und ihr \ erhält nis 
zu der Bevölkerung, unter der sie leben, erblicken. Wir 
sind uns darüber klar, daß Palästina nur ein Bruchteil 
der Judenheit aufnehmen kann und daß es nach wie vor 
unsere Hauptaufgabe bleibt, für die Juden der Diaspoia 
günstigere Lebensbedingungen unter ihrer Umwelt zu 
schaffen, wozu aber eine internationale Kontrolle, wie die 
Jüdisch nationalen sie wün^bhen, -schon deshalb nicht ge¬ 
eignet ist, weil sie zu fortwährenden Reibungen nut den 
Wirtsvölkern führen muß. Wir wünschen ein Zusammen¬ 
gehen mit den Zionisten in der Palästinaarbeit, dieses ist 
aber nur dann möglich und erfolgversprechend, wenn 
auch sie ihrerseits auf unsere Wünsche und Bedurfnisse 
Rücksicht nehmen. 
Wenn wir z. B. das Ergebnis der Wiener Gemeinde¬ 
ratswahlen betrachten, so sehen wir zunächst die eilieu- 
üche Tatsache, daß drei Jüdischnationale und ein ebenso 
bewährter Jude, der schon früher dem Gemeinderat an- 
gehörige Demokrat Dr. Schwarz-Hiller gewählt wurden. 
Bei 250.000 jüdischen Einwohnern sind diese vier auf 
jüdischem! Programm gewählten eigentlich' kein glänzen¬ 
der Erfolg, denn dem Zahlenverhältnis entsprächen 15 
bis 16 Gemeinderäte (von 165). 
So liegen die Verhältnisse in der Großstadt und wie 
würde es erst in den Provinzstädten mit einer jüdisch- 
nationalen Vertretung aussehen, mit ihrer, ein paar hun¬ 
dert oder noch weniger Seelen zählenden Judenschatt; 
Hier kann uns der Anschluß an die für uns Juden gegen¬ 
wärtig einzig mögliche sozialdemokratische Partei heute 
doch leichter ein jüdisches Mandat bringen, das unsere 
Interessen zu vertreten geeignet ist, als unsere Isolierung 
unter Berufung auf unsere nationale Selbständigkeit. Die 
kulturelle Autonomie, d. h. das Recht auf selbständige 
Regelung aller jüdischen Angelegenheiten werden wir, 
soweit wir es noch nicht besitzen und im Falle einer I ren¬ 
nung von Kirche und Staat darüber hinaus anstreben 
müssen Wie weit wir dann mit unseren kulturellen 1 or- 
derungen werden gehen können, wird immer von unserer 
Anzahl und von dem Interesse, das der einzelne am Ju- 
tentnme nimmt, abhängen. Eine Norm wird sich hietur 
schwerlich finden lassen, wohl aber wird durch eine Or¬ 
ganisation der gesamten Judenheit Deutschösterreichs 
entweder im Wege der bisherigen Kultusgememden oder 
aber auf irgend einer anderen Plattform, die erst zu 
schaffen ist, an die Lösung dieser Aufgabe geschritten 
werden müssen. Diese Organisation soll dann den loka¬ 
len Verhältnissen und Bedürfnissen der Juden m den 
einzelnen Ländern und Städten Rechnung tragen und die 
hohe Bestimmung haben, uns vor Zerfall und Zersplit- 
terung zu bewahren. 
Die Grundbedingung für das Gelingen dieser Auf¬ 
gabe ist aber das Aufgeben des Radikalismus auf der 
einen, das Brechen mit den Vorurteilen auf der anderen 
Seite und ein Aufraffen aus der bisherigen Teilnahms¬ 
losigkeit, in jüdischen Fragen, bei einem ebenfalls nicht 
geringen Teile der jüdischen Bevölkerung. Uns zu ver¬ 
ständigen und zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuschlie¬ 
ßen, dahin muß jetzt unser ernstes Streben gehen, wenn 
wir uns über die gegenwärtige kritische Situation hin¬ 
überretten wollen. Alle jüdischen Kreise müssen die Not¬ 
wendigkeit erkennen, alles parteimäßige Streben, jede 
Eigenbrödelei muß gegenüber, diesem gemeinsamen Le¬ 
bensinteresse aller «luden in den Hintergrund treten. Kein 
Volksgedanke, auch nicht der zionistische kann verwirk¬ 
licht werden, wenn er nicht geeignet ist, den einzelnen im 
Volke zu befriedigen. Und das mögen sich die jüdischen 
Politiker immer vor Augen halten, daß sie mit einem Häuf¬ 
lein von Fanatikern nichts, mit der großen Masse des 
Volkes hinter sich aber alles erreichen können. Gelingt 
es uns jetzt, in dem Augenblicke höchster Gefahr nicht, 
eine Einigkeit in unserer Lebensfrage herzustellen, so 
werden die Zionisten seinerzeit in Palästina dieses Ziel 
ebensowenig erreichen und dann ist es wohl vollkommen 
gleichgültig, ob wir die Hoffnung auf ein wiedererstehen¬ 
des jüdisches Gemeinwesen hier oder in Erez Israel ein 
für allemal begraben. Gleichgültig auf welchem Wege 
wir die Rettung des Judentums vor meinem Untergange 
anstreben, ob als Nation oder als Kulturgemeinschalt, 
müssen wir zuerst im eigenen Lager Eintracht und Frieden 
herstellen, um uns die Achtung unserer Umwelt zu er¬ 
ringen und mit ihr dereinst ein „einig Volk von Brüdern" 
zu werden. 
Mag es auch manchem von uns, insbesondere den 
Älteren, schwer fallen, sich dem Wechsel der Zeitläufte 
anzupassen, so müssen wir uns doch alle im Interesse, einer 
ruhigen geschichtlichen Entwicklung der Judenheit dazu 
entschließen. Politische Überzeugung wird oft mit, Cha¬ 
rakter identifiziert und es sind gerade die sittlich Hoch¬ 
stehenden unter uns, die am häufigsten in diesen Fehler 
verfallen und auf dem einmal eingenommenen politischen 
Standpunkt um jeden Preis verharren wollen, ohne Rück¬ 
sicht auf das Wohl und Wehe der Gesamtheit. Ein glän¬ 
zendes Beispiel hiefiir gibt uns die Bildung der deutsch- 
böhmischen Einheitspartei in Reichenberg. Die Haupt¬ 
versammlung faßte folgenden Beschluß: „Die Juden sind 
als eigenes Volk anzusehen, wie sie es in ihrer überwie¬ 
genden Mehrheit selbst verlangen. Daraus ergibt^sich 
folgerichtig uns' re Stellung zum jüdischen Volke." • 
Wir gehören nun nicht zu jenen Einfältigen, die den 
Reichenberger Deutschnationalen so ohne weiters glau¬ 
ben, daß sie erst die Haltung der Jüdischnationalen 
dazu bewogen hat, die Juden nicht als Deutsche, als 
Ihresgleichen anzusehen. Wir sind es von der Bildung 
deutscher Parteien, von Schutz-, Schul- und turn vereinen 
usw. gewöhnt, daß die Juden falls sie überhaupt jemals 
darin Aufnahme gefunden haben, eines schönen Tages 
mehr oder minder höflich hinauskomplimentiert wurden, 
und zwar so rasch, daß sich die Herren Deutschnationalen 
nicht einmal Zeit nahmen, die „Austretenden" vorher zu 
befragen, ob sie „sich in ihrer überwiegenden Mehrheit 
selbst als eigene Nation betrachten". 
Was haben aber unsere Reichenberger Stammes¬ 
genossen aus dem zitierten Beschlüsse der Einheitspartei 
für eine Lehre gezogen? Die Antwort darauf erhalten 
wir in einer von der „Reichenberger Zeitung vom 
5 April d. J. publizierten, von 384 wahlberechtigten 
Juden unterzeichneten Erklärung, in der es u. a. heißt: 
erklären wir unterzeichneten, in Reichenberg und Um¬ 
gebung wohnhaften deutschen Staatsbürger jüdischen be-
	        
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