Die Zionisten und wir.*
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für die deutschösterr. Provinz.
Nr. 16
f . 23. Mai
Linz, am
23. Ijar 5679
1919
Während der letzten Dezennien der Diaspora sind
noch nie die Gegensätze innerhalb der Judenheit so stark
in den Vordergrund getreten, wie wir sie gerade jetzt, bei
unserem kleinen Häuflein Juden Deutschösterreichs, die
wir alle Ursache hätten wie ein Mann zusammenzustehen,
beobachten können. Auf der einen Seite eine beispiellose
Flucht aus dem Judentum«, auf der anderen nationaler
Chauvinismus, absichtliches Unterstreichen der Gegen¬
sätze zur nichtjüdischen Umwelt und abseits von diesen
beiden, jener große Teil der Judenheit, den Tradition,
Pietät und Solidaritätsgefühl an das Judentum fesselt.
Wenn wir zu diesen drei auseinanderflutenden Richtungen
noch die in sich geschlossene Gruppe der Orthodoxen,
deren Zahl in Wien auch nicht gering ist, hinzurechnen,
so haben wir es zurzeit glücklich $uf vier verschiedene
Strömungen bei uns. Juden Deutschösterreichs gebracht.
Das also in einer Zeit, in der nicht nur in Kußland, Polen
und Galizien die entsetzlichen Pogrome sich ereignen,
die jede Stunde auf Ungarn, Tschechoslowakien und
Deutschösterreich übergreifen können, sondern wo auch
schon in München und Berlin der Ruf nach Judenverfol¬
gungen laut wird und diese jeden Augenblick zur Fat
werden können.
Daß die Zerklüftung uns in der kritischen Situation,
in der wir uns befinden, nur Unheil bringen kann, wird
jeder, der nicht gewillt ist, Vogel Strauß zu spielen, ohne
weiters einsehen. Jeder aus den drei erwähnten, das Ju¬
dentum bejahenden Gruppen — die bereits Abgefallenen
und zum Abfall Reifen kommen naturgemäß hiebei nicht
in Frage — wird sich aber auch sagen, daß* der bisher
beschritten e Weg wohl zur Erstarkung des einen auf
Kosten des anderen Teiles, niemals aber zur Kräftigung
des gesamten Judentums führen kann. Im Gegenteile
setzt sich jede dieser drei Gruppen durch energisches Ver¬
fechten ihres Standpunktes in diametralen Gegensatz zur
anderen und es kommt zu so betrübenden Erscheinungen,
wie wir sie sowohl in Wien als auch in der Provinz gele¬
gentlich der Wahlen — Nationalversammlung-, Landtags-,
Gemeinderats- und Kultusgemeindewahlen — sattsam zu
beobachten Gelegenheit hatten.
Überall in nichtzionistischen Kreisen herrscht mit
Recht die Ansicht vor, daß die Zionisten es waren, die
diesen Zwist heraufbeschworen haben und diese brauchen
sich ihrerseits dieses Vorwurfs nicht im geringsten zu
schämen. Der Zionismus bedeutet eine ernste Entwick¬
lungsperiode in der Geschichte des Judentums, in der er
auch seine tiefe Begründung hat. Es wird deshalb der
Zionismus als solcher von denen, die ihrer Gesinnung nach
nicht auf jüdischnationalem Hoden stehen, sich aber voll
und ganz dem Judentume gehörig fühlen, nicht nur nicht
bekämpft, sondern auch die Bestrebungen seiner Anhän¬
ger in allen jenen Belangen, die, ohne uns zu unserer
nichtjüdischen Umwelt in herausfordernden Gegensatz zu
stellen, geeignet sind!, unseren Stammesgenossen in ihrem
physischen und seelischen Elend Rettung zu bringen, aufs
wärmste gefördert. Was wir aber an den Zionisten —
wir machen in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwi¬
schen Zionisten und Jüdischnationalen — auszusetzen
haben, ist die Art und Weise ihres Vorgehens gegen alle
jene Kreise, die aus verschiedenen Gründen nicht in ihr
Horn stoßen, den Sprung ins Ungewisse nicht mitmachen
wollen, und zwar unter Preisgabe unserer, wenn auch oft
geschmälerten, uns aber doch grundsätzlich zugebilligten
politischen Rechte, neue, andersgeartete anzustreben, ohne
die absolute Sicherheit zu haben, daß wir sie auch jemals
erlangen werden. Der Zionismus und mit ihm die jüdisch-
nationale Bewegung brachte eine Neuorientierung des
lebendigen und tätigen Judentums in kultureller und poli¬
tischer Beziehung. Über diese Tatsache kann wohl heute
kein denkender und kritisch beobachtender Jude hinweg¬
sehen und darum kann auch keiner, der an der Weiter¬
entwicklung des Judentums interessiert ist, prinzipieller
Gegner des Zionismus sein.
Dort, wo die Lage der Juden wirklich unerträglich
geworden ist, in Rußland, Polen und Rumänien, ist zwei¬
fellos das von Theodor Herzl Begründete und von den
• Von dem Grundsatze ausgehend, ein Organ der gesamten Provinzjudenschaft sein zu wollen, freut es uns sehr, einen Artikel aus
der Feder eines ausgesprochenen Nichtnationalen bringen zu können. Unter „wir" möge der Leser daher nicht die Redaktion,.sondern
den Kreis, dem der Verfasser angehört, verstehen. ,),e Redaktion.