Volltext: Zeitschrift des Münchener Alterthums-Vereins XIV und XV Jahrgang (XIV. / XV, Jahrgang / 1903/04)

ANTIKE GESCHNITTENE STEINE. 
Mit einer Tafel. 
Von Professor Dr. Heinrich Bulle (Erlangen). 
In den Siegelsteinen und -ringen der Griechen 
und Römer liegt ein ungeheurer Schatz künstle¬ 
rischer Arbeit vor uns, ein unerschöpflicher Reich¬ 
tum von Motiven, die auf den kleinsten Raum: kon¬ 
zentriert sind, eine Fülle der köstlichsten Formen, 
die mit subtilster Technik in edles, unvergängliches 
Material gegraben sind. Kein Wunder, dass das 
Sammeln geschnittener Steine schon in der Re¬ 
naissance eifrig betrieben wurde, und dass in den 
Zeiten Winckelmanns und Goethes die Glyptik 
einen Ehrenplatz bei den Altertumsfreunden ein¬ 
nahm. Im 19. Jahrhundert sank jedoch das In¬ 
teresse auffallend, und die sonst in allen Zweigen 
so betriebsame Altertumswissenschaft vernachläs¬ 
sigte dies Gebiet, ja ging sichtlich mit einer gewissen 
Scheu daran vorüber. Der Grund war, dass hier 
die Kunst der Fälscher schon seit dem 18. Jahr- I 
hundert wahre Triumphe gefeiert hatte, und dass 
nur ganz wenige Gelehrte und Sammler die Ken¬ 
nerschaft besassen, um der Gefahr der Täuschung 
gewachsen zu sein. Aber das Jahrhundert hat die 
Schuld der Vernachlässigung noch wett gemacht. Im 
Jahre 1900 erschien bei Giesecke & Devrient in 
Leipzig ein dreibändiges Werk Adolf Furt¬ 
wängler s „Die antiken Gemmen. Ge¬ 
schichte der Steinschneidekunst im 
Altertum“, in welchem das ganze ungeheure 
Material kritisch gesichtet und zum ersten Male 
historisch gruppiert wurde. Vollendete Kenner¬ 
schaft, geübt durch die vorausgegangene Katalo¬ 
gisierung der gegen 12000 Stück enthaltenden Gem¬ 
mensammlung des Berliner Museums, dazu die glän¬ 
zendste Anwendung der modernen stilkritisch-histo¬ 
rischen Methode haben hier ein Fundamentalwerk 
geschaffen, durch welches das lange verschlossene 
Gebiet endlich betretbar geworden ist. Es ist 
nicht möglich, auch nur die Grundzüge dieser 
grossen Arbeit hier darzulegen; eine Uebersicht 
des Inhalts und der Resultate habe ich in Teubners 
Neuen Jahrbüchern für das klassische Altertum 
1900, I, S. 661—691 (mit 2 Tafeln) gegeben. 
Die unmittelbare Folge von Furtwänglers Gem¬ 
menwerk ist einmal ein lebhafteres wissenschaft¬ 
liches Studium der Glyptik, andrerseits ein Neu- 
aufleben der Sammeltätigkeit. Ich bin in der 
glücklichen Lage, aus einer in den letzten Jahren 
in München entstandenen privaten Gemmensamm¬ 
lung eine Anzahl ausgewählter Stücke veröffent¬ 
lichen zu dürfen. Unser Mitglied Dr. Paul Arndt 
hat seine Aufmerksamkeit gleichmässig allen Epo¬ 
chen der alten Steinschneidekunst zugewendet, so- 
dass sich in seiner gegen 200 Stück betragenden 
Sammlung Vertreter vorfinden von der mykeni- 
schen Epoche an bis herab zur Sassanidenzeit. 
Zwei Steine unserer Tafel (2, 4) gehören dem 
2. Jahrtausend v. Chr. an, der sogenannten „my- 
kenischen“ Zeit, in der auf Kreta eine Kultur 
blühte, die sich über das ganze aegaeische Meer bis 
nach Griechenland aus breitete. Ueber das künst¬ 
lerische Können dieser Zeit werden wir durch 
immer neue Funde auf Kreta stets wieder in Er¬ 
staunen versetzt. Unsere beiden Steine geben einen 
lebhaften Begriff davon, wie diese Künstler die 
Naturformen frei und malersich erfassen und sie 
doch mit ganz eigenem Geschmack dekorativ in 
den Raum einordnen. 
Besonders reich ist die Sammlung Arndts an 
Steinen der ersten grossen Blütezeit der griechischen 
Kunst, dem 5. Jahrhundert v. Chr., aus dem 
diese kleinen Denkmäler viel weniger zahlreich er¬ 
halten sind als aus der späteren hellenistisch-römi¬ 
schen Zeit. Die Glyptik scheint damals besonders 
im jonischen Kunstgebiete, d. h. in den 
Griechenstädten Kleinasiens und auf den vorge-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.