Volltext: Zeitschrift des Münchener Alterthums-Vereins XIV und XV Jahrgang (XIV. / XV, Jahrgang / 1903/04)

EIN BRUCHSTÜCK EINES MISSALE ROMANUM 
erläutert von Dr. 
Die vielen Hunderte von handschriftlichen rö¬ 
mischen Missalien des Mittelalters, die in den Biblio¬ 
theken lagern, interessieren hauptsächlich nach zwei 
Seiten hin, nach der liturgischen und nach der kunst¬ 
geschichtlichen. Während der erstere Interessenten¬ 
kreis naturgemäss ein engerer ist, hat man der Ge¬ 
schichte der künstlerischen Ausstattung der Missa¬ 
lien auch in weiteren Kreisen Aufmerksamkeit ge¬ 
schenkt. Immerhin aber ist auf diesem Gebiet noch 
viel Arbeit zu leisten, ehe einmal Jemand die kunst¬ 
geschichtliche Entwickelung der Missalien wird schil¬ 
dern können. Möge der folgende kleine Beitrag 
hiezu nicht unwillkommen sein! 
Von dem ganzen Missale, um das es sich in 
dem vorliegenden Falle handelt, sind nur zwei 
Blätter auf uns gekommen. Bei der Sichtung des 
städtischen Archives in Kitzbühel, dem beliebten 
Sommerfrischort in Nordtirol, fand sich auch ein 
Buch, das in altes beschriebenes und bemaltes Per¬ 
gament eingebunden war. Das Pergament wurde 
abgelöst und von Plerrn Wilhelm Schräder in Mün¬ 
chen käuflich erworben. Es erwies sich als Bruch¬ 
stück eines römischen Missale, und zwar als dessen 
in kunsthistorischer Beziehung wie bei allen Missa¬ 
lien interessantester Teil, als Kanonanfang mit Kreu¬ 
zesbild. 
Die Entwickelung der künstlerischen Aus¬ 
schmückung des Kanonanfangs ist bekannt.1) Der 
Kanontext beginnt mit den Worten: Te igitur. Als 
man anfing, die Initiale T zu verzieren, geschah 
dies durch reine Ornamentik. Bald aber entwickelte 
sich an dieser Stelle ein typischer Bildschmuck, die 
Darstellung des leidenden Heilandes am Kreuze. 
Veranlassung hiezu gaben zwei Umstände. Erst¬ 
lich der Inhalt des Kanon: Die darin sich voll¬ 
ziehende Konsekration, welche Leib und Blut des 
Herrn unter den Gestalten von Brot und Wein 
gegenwärtig setzt, ist die unblutige Repräsentation 
*) Vgl. Ebner, Quellen und Forschungen zur Ge¬ 
schichte und Kunstgeschichte des Missale Romanum im 
Mittelalter (Freiburg i. B. 1896) S. 443. 
Georg Leidinger. 
des Kreuzesopfers auf Golgatha. Zweitens die 
Form des Buchstabens T, in der die Kreuzesform 
gegeben war. Schon sehr frühe erscheint daher das 
Kreuzesbild des Heilandes an der Stelle des T. 
Später wurde nicht bloss die Einzelfigur des Hei¬ 
landes am Kreuz abgebildet, sondern man gab auch 
noch andere Figuren dazu, besonders aber Maria 
und Johannes, die trauernden Bilder von Sonne 
und Mond, Engel u. s. w. Schliesslich war man 
sich der Entstehungsgeschichte des Kanonbildes 
nicht mehr bewusst und trennte das Kreuzesbild 
von der Initiale T, die ihrerseits wiederum mit 
neuen Motiven verziert wurde. Wir sind damit in 
der Entwickelungsgeschichte der Missale-Illustration 
ins 12. Jahrhundert eingetreten. Damals wurde 
auch das Missale gefertigt, dessen Bruchstück wir 
vor uns haben. 
Die beiden Pergamentblätter, deren zwei Mit¬ 
telseiten auf unseren Tafeln etwas verkleinert 
wiedergegeben sind, haben eine Höhe von 28 und 
eine Breite von 18 cm. Das Pergament ist stark 
gebräunt und hat, wahrscheinlich durch Feuchtig¬ 
keit, sehr gelitten. Immerhin ist die Schrift gut 
erhalten, während die Farben der beiden Minia¬ 
turen beträchtlich an ihrer einstigen Schönheit ein- 
gebüsst haben und insbesondere die Goldtöne durch 
Oxydation wesentlich verändert erscheinen. Man 
wird nicht fehlgehen, wenn man die sauberen und 
sorgfältigen Schriftzüge des Textes, in dem die 
meisten Initialmajuskeln durch Miniierung hervor¬ 
treten, der Mitte des 12. Jahrhunderts zuweist. 
Der Text ist für den kirchlichen Gebrauch durch 
spätere Randnoten ergänzt worden, bei denen man 
drei verschiedene Hände des 13. und 14. Jahrhun¬ 
derts unterscheiden kann. Von den mehr als 
150 handschriftlichen Missalien, welche die K. Hof- 
und Staatsbibliothek in München besitzt und die 
ich zwecks, Bestimmung des vorliegenden Bruch¬ 
stückes durchgesehen habe, scheint mir unseren 
Blättern ein aus Benediktbeuern stammendes Mis¬ 
sale, clm. 4553, sehr nahe zu stehen. Die Aehn-
	        
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