Volltext: Bruckner-Blätter Nummer 1/2 1932 (Nummer 1/2 / 1932)

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nenden Miserere-Rufe und das unvergleichlich schöne Dona! In der 
E-moll-Messe offenbart sich in besonderer Weise Bruckners künstlerische 
Unabhängigkeit, Eigenart und Überlegenheit. Es fehlt nicht an Stimmen, 
welche dies Werk als das reichste und geschlossenste aller kirchlichen 
Schöpfungen des Meisters hinstellen. Sicherlich überragt es auch Liszts 
Missa choralis an Wirkung und innerem Wert. 
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Bruckner selbst aber hat unter seinen Messen die in F m o 11 am 
höchsten eingeschätzt und ihr den Beinamen der Großen gegeben. Sie 
entstand im letzten Jahr des Linzer Aufentlialtes, ist „dem Höchsten 
zur Verherrlichung“ für die Hofkapeile in Wien geschrieben, dem Hof 
rat Imhof gewidmet •) und beschäftigt außer Chor und Orchester auch 
noch ein Soloquartett u,nd eine Solo-Violine und -Bratsche. Dieses gran 
diose Werk, aus tiefster Innerlichkeit und mit dem Aufwand erstklas 
siger Kunstmittel geschaffen, hat selbst einem Brahms imponiert. Bei 
der Uraufführung in der Augustin er kirche unter des Meisters Leitung 
(am 16. Juni 1872) saß er lauschend in der Sakristei. Da gab es ein „hm, 
hm“ hin und ein „hm, hm“ her und zum Schluß das Gesamturteil: 
„Der kann was!“ Wie immer zwingt Meister Antonius aber besonders 
in dieser Messe zu andachtsvoller Konzentration und zum betrachtenden 
Miterleben. Die gedanklichen Zusammenhänge der liturgischen Texte 
sind mit einem staunenswerten Feingefühl auch musikalisch hergestellt. 
Das Werk wächst aus primitiv motivischen Keimen hervor. Man beachte 
gleich zu Beginn des Kyrie das obere Tetrachord der F-mo 11-Tonleiter 
mit der gleichzeitigen (verlängerten) Gegenführung im Baß. Es ist die 
Keimzelle für alle Thematik des Werkes, vom Fugenthema des Gloria 
und einigen anderen kleinen Ausnahmen etwa abgesehen. Und wie ver 
steht es der Meister, diesem geringen Tonmaterial immer wieder einen 
anderen Stirn mungsgehalt und Gefühlswert zu verleihen! Von welcher 
Einfachheit und doch voll lapidarer Schwere und im Geiste Schuberts 
(C-dur-Symphonie!) ist das Hauptthema des Credo! Im Et incamatus est 
wieder jene feine Stimmung, die Bruckner immer so gut gelingt. Dann 
die Schilderung des heraunahenden Richters und des Gerichtes selber, 
das langausgesponnene, selige Et vitam mit den stets dazwischen fahren 
den, glaubentsfreudigen Credo-Rufen! Bezüglich des Benedictus, eines 
von dem Schönsten, was uns der Meister überhaupt geschenkt, äußerte 
er sich selbst gegenüber Nikisch, er habe plötzlich den Himmel offen 
gesehen und den lieben Gott, die Engelchöre, den heiligen Petrus und 
St. Michael geschaut. . . Das Agnus Dei . . . aber genug. Bei dem für 
diese Abhandlung karg zugemessenen Raum kommt man ganz in Ver 
legenheit, auf welche Schönheiten man zunächst hinweisen soll. Dem 
Orchester sind fast durchwegs symphonische Aufgaben gestellt. Von 
der Gloria-Fuge und etwa vom Benedictus abgesehen, liegt der musika 
lische Schwerpunkt, die eigentliche große Kunst hauptsächlich im Or 
chester. Die Stimmen bewegen sich bisweilen ganze Strecken homophon, 
vielfach im Unisono. Wie nun der Meister die beiden Klangkörper des 
Chores und des Orchesters zu einer so wunderbaren, mächtigen Einheit 
verschmilzt, darin liegt das Geniale und Außerordentliche dieser Messe. 
Die kirchlichen Kompositionen Bruckners und vor allem seine 
Messen bilden eine herrliche Apologie seiner hohen Kunst und zugleich 
seines frommen, demutsvollen Sinnes. Er ist a um mit Liszt zu sprechen, 
der „Minnesänger Gottes“. 
Prof. Franz X. Müller, Domkapellmeister, Linz 
*) Die Widmung ist zwar ausdrücklich nirgends verzeichnet, aber der Meister erwähnt 
sie in einem Briefe an PohL
	        
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