Volltext: Innviertler Kalender 1935 (1935)

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Mißverstanden. 
Von Franz Turba. 
Roderich Heupferd fährt im Sommer nach Tirol und steigt 
dort im Gasthause zur „Gemse" des Dominik Kolbenwasser in 
Hintersill ab: Denn Hintersill liegt in einer von der Unrast des 
Stadtlebens völlig unberührt gebliebenen Gegend und ver¬ 
spricht als Sommeraufenthalt die so lange ersehnte Ruhe und 
Erholung. 
Und Heupferd brauchte diese Ruhe dringend. Auch ein in der 
medizinischen Wissenschaft völlig unerfahrener Laie wie Do¬ 
minik Kolbenwasser erkennt aus den ersten Blick, daß Roderich 
nervös, sehr nervös ist. Heupferd übt zehn Monate im Jahre 
in der Städt das Amt eines Musikprofessors aus und ist über¬ 
dies in einem großen Opernrheater als Dirigent tätig. Ein sol¬ 
ches Geschäft verlangt gute Nerven und bringt mit der Zeit auch 
die besten Nerven in Unruhe und Unordnung. 
Bei der „Gemse" ist der Professor mit der Unterkunft und 
Verpflegung, ja selbst mit den Preisen zufrieden. 
Nur eines stört ihn in seinem Sommerquartier. . .Das 
Jodeln der Dorsburschen, die sich am Abend im Gastzimmer der 
„Gemse" versammeln und dort bei Zitherklang ihren. Gemein- 
schaftsgesängen freien Kauf lassen. 
Es läßt sich nicht leugnen, diese abendliche Liederproduktion 
trägt für gewöhnlich1 nicht zum Wohlbehagen von musikalischen 
Menschen bei. Für ein empfindsam veranlagtes Gemüt und ein 
musikalisch gebautes Ohr bedeutet der Hinterfiller Chorgesaug 
eine geradezu unerträgliche Belastungsprobe. 
Wie zum erstenmal die Lieder der Dorsburschen an Roderichs 
Ohr dröhnen, sucht sich der musikalische Dirigent durch einten 
Abendspazier gang den unmusikalischen Disharmonien zu ent¬ 
ziehen. Nach der Rückkehr zieht sich der Herr Professor in fein 
Zimmer zurück und glaubt dort hinter den geschlossenen Fenstern 
vor dem noch immer ausdauernden Gejodel geschützt zu sein. Aber 
er merkt bald, daß auch die dicksten Mauern und die stärksten Fen¬ 
sterläden nicht imstande sind, die Stimmkraft der Hintersiller 
Lungen abzuschwächen. 
In einem Augenblick der plötzlich über ihn hereinstürmenden 
Verzweiflung und Raserei weiß Roderich Heupferd keinen ande¬ 
ren Rat, als mit verhaltenen Ohren über die Stiege hinab zu 
eilen und unten im Hausflur den ihm! 'entgegenkommenden Gast¬ 
wirt mit der in höchster Aufregung hervorgestoßenjen Frage zu 
überfallen: 
„Sagen Sie mal, Herr Wirt, lassen Sie denn auch Verrückte 
und Narren in Ihr Haus?" 
„Eigentlich nicht," erwidert bedächtig Dominik Kolbenwasser 
und sieht dabei dem Professor einen Augenblick zweifelnd und 
prüfend in das Gesicht, „aber wenn Sie sich bei mir ruhig ver¬ 
halten, wenn Sie den übrigen Gästen keinen Anlaß zu Angst oder 
Beschwerden geben, will ich gerne einmal zwei Augen zudrücken 
und Sie können weiter bei mir bleiben ..."
	        
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