Volltext: Der Spaßvogel 1935 (1935)

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Von Franz Turba. 
Nachdruck verboten! 
& eine ist immer der besondere Stolz 
Schinagls gewesen. 
Fünfzehn Jahre, wirklich volle 
ünfzehn Jahre lebte er jetzt in der 
Großstadt und war nie, auch nicht ein 
einzigesmal das Opfer eines Betrügers 
geworden. 
Aun einem Juninachmittage kehrte Schi— 
aag von einer längeren Geschäftsreise zu— 
rück. 
Der Zug war nur schwach besetzt, in 
dem kleinen Seitenabteil, in dem Engel— 
dert saß, hatten nur noch zwei andere Fahr— 
zäste Platz genommen, ein dicker, älterer 
herr, der die ganze Zeit über an seinem 
Fensterplatze schlief, und ein hochgewach— 
sener, junger Mann, der kaum zwei—, drei— 
mal von seinem Zeitungsblatte aufsah. 
Als der Zug die ersten Häuserreihen 
der Vororte erreichte, fuhr der alte Herr 
aus dem Schlafe auf, rieb sich die Augen, 
varf einen Blick in das Freie hinaus, 
rief erschrocken: „Da sind wir ja schon im 
Ostbahnhof!“, riß eine braune Ledertasche 
aus dem Gepäcknetz und war im nächsten 
Augenblick draußen verschwunden. 
Nur eine umfangreiche Brieftasche 
blieb auf der Bank, welche der dicke Herr 
mit einer solchen Beschleunigung verlassen 
hatte, zurükkßk. 
„He, Sie ... Sie ...!“ sprang Schi— 
nagl auf und wollte die Brieftasche dem 
Verlustträger auf den Bahnsteig hinaus— 
reichhen. 
„Aber Psft! Pst!“ sah plötzlich der Zei— 
tungsleser hinter seinem Blatte hervor. 
„Warum machen Sie wegen dieser Sache 
einen solchen Lärm? Wissen Sie denn 
überhaupt, ob diese Brieftasche dem 
Herrn, der eben ausgestiegen ist, gehört? 
Und wenn ... Haben Sie eine Ahnung, 
was die Tasche eigentlich enthält? Viel— 
leicht ist die Tasche leer, warum machen 
Sie sich dann wegen eines Gegenstandes, 
auf den offenbar sein Eigentümer keinen 
Wert legt, eine solche Mühe? Vielleicht ist 
die Tasche nicht leer, vielleicht enthält sie 
so viel, daß es sich gar nicht lohnt, den 
eifrigen Finder zu spielen. Ich weiß, Ehr— 
lichkeit ist eine Tugend, die man üben 
soll, die man üben wird, wenn sich nicht 
der Verzicht auf die Ausübung dieser guten 
Eigenschaft besser bezahlt macht. Nehmen 
wir an, in dieser Tasche befinden sich 4000 
Schilling. Ich bin nicht so reich, doß ich 
1000 Schilling, die mir das Schicksal selbst 
n die Hand drückt, mit der erhabenen 
Miene eines genügsamen Philosophen an 
das polizeiliche Fundamt abliefern könnte. 
Ich kenne Ihre Lage nicht, meine aber, 
Sie haben keinen Anlaß, den Voreiligen 
und Uebereifrigen zu spielen. Haben Sie 
ür den Inhalt dieser Tasche keine Ver— 
vendung, schön, dann drücken Sie beide 
Augen zu und denken Sie sich, Sie haben 
diese kleine Geschichte nur geträumt! Wol— 
en Sie aber zunächst einmal wissen, was 
diese Tasche enthält, gut, dann steigen wir 
nitsammen im Hauptbahnhofe aus und 
sehen in der Bahnhofwirtschaft bei einem 
Hlas Bier nach, ob wir uns einem hem— 
mungslosen Ehrlichkeitsdrange überlassen 
dürfen. Und damit Sie nicht meinen, daß 
ich Sie übervorteilen will, lasse ich die 
Brieftasche zunächst in Ihrer ausschließli— 
chen Verwahrung.“ 
Schinagl nickte nicht „ja“, Schinagl wi— 
dersprach nicht mit einem „nein“, denn 
bevor er überhaupt etwas reden und über— 
legen konnte, stürmte mit einem Wale der 
alte Herr wieder in den Wagen hinein.... 
Bei diesem unerwarteten Wiedersehen 
gab es der Hand Engelberts unwillkürlich 
einen schuldbewußten Riß, und die Brief— 
tasche, die verräterische und peinliche Brief— 
tasche, hatte sich im Handumdrehen zu 
dem in der Seitentasche des Rockes ver— 
wahrten Sacktuch zurückgezogen. 
„Ah hier .... Ja hier in diesem 
Wagen bin ich gewesen!“ stieß aufgeregt der
	        
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