Volltext: Der Naturarzt 1900 (1900)

20 
— M 
(Hierbeéi blickte mich der Junge an, als wollte er sagen: Habe ich es recht 
gemacht?) Wie wir dies machen müssen, darüber will ich Ruch in der 
Diktatstunde éinige Abschnitte aus Seneka diktieren, für heute aber will 
ich Duch nur noch den Hauptgrund dafür angeben, warum ich den Stock 
nicht ergriffen habe. 
— ich 
erzürnt wär und dann wahrscheinlich gedacht hättet, ich strafe den M. aus 
Zorn. Das sollt Ihr aber nicht denken, sondern Ihr sollt stets versichert 
sein, dass ich nur aus Li ebe strafe, oder kuürzer gesagt: ich will Luch 
nicht strafen, sondern züchtigen. Wisst Ihr, was da für ein Untéerschied 
ist?“ — „MWir schwiegen alle.“ — „So seht LEuch doch einmal das Wort 
„zuchtigené an, woher kommt es?“ — „Von Zucht,“ sagte iech; — „KRichtig, 
ind Zueht Kommt?“ — „Von ziehen.“ — „Gut, und wozu will ich Ruch 
denn ziehen oder erziehen, wozu schicken Euch EKure Eltern in die Schule 
und lassen sich's so viel Kosten für Schulgeld und Lernmittel?“ — „Damit 
vir etwas lernen.“ — „Ja, damit Ihr tüchtige Menschen werdet und spüter 
Eueèr gutes Fortkommen findet und glücklich seid. Aber daran denkt Ihr 
seIbét sehr haufig nicht und- da denken dann Lure Eltern und Lehrer für 
Euch, suchen durch ernsto Worte und wenn diese nicht helten, auch durch 
strenge Züchtigung Kuch zu Fleiss und Aufmerksamkeit zu mahnen, damit 
Ihr Hure Kosthare Jugendzeit nicht nutzlos vergeudet. zu EPurem spateren 
Schaden und Nachteil. Sehr Ihr nun ein, dass auch die Zuchtigungen nur 
aus Liebe z2u Duch entspringen?“ — „Ja, “ riefen alle. — „Dann müsst Ihr 
aber auch einseben, dass mir die Züchtigungen, 20 denen ich mich ver- 
anlasst sehe, ebenso, sSchmerzlich sind als Luch. Ihr werdet Duch daher in 
Zukunft recht Muhe' geben und aufmerksam sein, nicht wahr?“ — „Ja,“ 
riefon wir begeistert. - Dann schnitt der Lehrer den geschalten Apfel in 
der Mitte dureh, gab dis eins Hälfte dem M. und ass die andere Hãàalfte. 
—E den 
Apfel, wahrend er ibhn ass. Als er damit fertig war, streckte ihm der Lehrer 
die Rechte hin, welche der Knabe freudig ergriff, legte ihm die Hand aufs 
Haupt und sagte: „Und nun, meéein Sohn, wollen wir die Regel noch einmal 
vornehmen.“ — „Und hat er sie nun begriffen?“ warf ich dem Jungen ein. 
— ‚Ja, gab er zur Antwort, „er machte in den Beéispielen dann keine 
Fehler mehr.“ 
Mir aber war nun das auffallende Benehmen meines Jungen klar und 
ich freuto mich im Stillen darüber, wenngleich ich mit der Ansicht des 
Lehrers noch“nicht ganz einig war, sondern meinte, eine mãssige Erreogung 
und Entrüstung sei bei éiner Züchtigung doch immerhin am Platæze. 
Immerhin war ich gespannt auf die angesagten-Diktate und ich gab daher 
meinem Jungen auf, sio mir, sobald sie gegeben seien, zu zeigen. Freude- 
strahlend brachte er mir in den folgenden Tagen seine Hefte. Ich las sie 
mit grosssem Interesse und will daraus nur jene- Stelle anführen, die mich 
volleñds ganz zu der Meinung des Lehrers bekehrte. 
„Aue Rindrücke, dio mieht mit unserem Willen entstehen, sind un- 
besieghar und- unvermeidlich, 2. B. Schauder bei Bespritcung mit kaltem 
Wascer, Zuruückschrecken bei gewissen Berührungen, Emporstrecken der 
Haare bei schreeklichen Nachrichten, Schamröte bei unanstândigen Reden, 
Schwindel uöd dergleichen. Diess Dinge stehen nicht in unserer Gewalt. 
und darum mahnt duch dis Vernunft nicht von ihnen ab; der Lorn aber 
kann durch Vorsaätze vertrieben werden; er ist ein freiwilliger Fehler und 
gehört nicht z2um allgemeinen Menschenlos, dem auch die Wéisesten unter- 
worfen sind. U IJ 
„Der Rechtschaffenes muss aber doch notwendig dem Bösen zürnen“, 
sagt Théophrastus. Darauf erwidert Seneka: „Im Gegenteil, je trefflicher 
ein Mensch ist, desto milder und leidenschaftsloser wird er gein und niemand 
hassen. Warum sollte er auch die Fehlenden hassen, da ein Irrtum sie in 
ihre Vergehen treibt? Bin kluger Mann hasst Irrende nicht, er muũssto
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.