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rasthenie der Kopfnerven, der Kückenmarksnerven, des Herzens, des Magens.
Dazu kommen noch die verschiedenen Angstzustände, wie Angst vor freien
Plätzen, vor den Strassen, vor geschlossenen Räumen, vor Gesellschaft, vor
Wasser und vor manchem anderen.
Hiermit sind natürlich auch die Krankheitsbilder äusserst verschieden,
und wie bekannt, liefert die Neurasthenie von allen Krankheiten die meisten
Abwechselungen. Selbst an ein und derselben Person können sich die
Krankheitserscheinungen im Handumdrehen ändern. Da klagt der eine
hauptsächlich über Kopfdruck, Unfähigkeit zum Denken, Gedächtnisschwäche,
Willensschwäche, Schwindel; ein anderer klagt besonders über Angst
zustände aller Art, ein dritter über Rücken- und Gliederschmerzen, sowie
über allerlei merkwürdige Empfindungen, wie Kribbeln, Ameisenlaufen,
Brennen, Pelzigsein, auch wohl über Gefühllosigkeit oder übermässige
Empfindsamkeit, ein vierter klagt über eine übermässige Schwäche des
ganzen Körpers, die Glieder sind ihm schwer wie Blei und unbeweglich, er
ist wie gelähmt am Körper; andere erzählen in erster Linie von ihren Magen
beschwerden, Darmstörungen, Schlaflosigkeit etc.
Je nach der Intensität der Krankheitserscheinungen können wir
leichtere, mittelschwere und schwere Fälle unterscheiden. Die leichteren
Erkrankungen bezeichnet man als nervöse Schwäche und sie gehen einher
mit einer gewissen Ueberempfindlichkeit und Reizbarkeit gegen äussere
Eindrücke, gegen Geräusche, ferner mit anhaltendem Kopfdruck, besonders
nach geistigen Beschäftigungen, mit geistiger und körperlicher Schwäche in
den Morgenstunden, wo sich ein gesunder Mensch am frischesten fühlt, mit
leicht auftretendem Herzklopfen, Schlaflosigkeit. — In mittelschweren Fällen
sind die genannten Symptome viel intensiver, die Arbeits- und Denkfähig
keit geht zurück, so dass oft auch das Lesen ganz gleichgiltiger Dinge un
möglich wird. Dazu kommen Gedächtnisschwäche, allerlei Angstzustände,
wie die schon genannten, selbst Todesangst quält diese armen Kranken,
ferner Schwindelanfalle, Blutandrang nach Brust und Kopf, erhöhte oder
herabgesetzte Empfindlichkeit der Gefühlsnerven, auch abnorme Empfindungen
in der Haut u. s. w. Endlich kommen vereinzelt auch noch .schwere neu-
rasthenische Erkrankungen vor, welche die genannten Symptome in höchster
Intensität zeigen. Man bezeichnet diese meist akut auftretenden höchsten
Erschöpfungszustände des Nervensystems auch wohl als nervösen Schlaganfall.
Die Behandlung der Neurasthenie muss in erster Linie eine ursächliche
sein, d. h. es muss den Ursachen der Erkrankung nachgespürt und müssen
dieselben aus dem Wege geschafft werden. Dass es in der Apotheke keine
Heilmittel dagegen giebt, das dürfte heute wohl allgemein bekannt sein,
höchstens lässt sich durch Medikamente das eine oder andere Symptom zeit
weise gewaltsam unterdrücken, womit ja manchem Patienten gedient sein
mag, aber in Wirklichkeit wird derselbe dadurch nur betrogen, denn ist die
Wirkung verflogen, dann sind die Beschwerden wieder da. Nerven, welche
im Laufe der Zeit durch äussere Reize ruiniert sind, können durch Arzneien
niemals geheilt werden, dazu bedarf es Heilmittel natürlicher Art, nämlich
Zerstreuung, Ruhe und Schlaf. Es ist Sorge zu tragen, dass alle schädi
genden Reize fern bleiben, damit das erschöpfte Nervensystem Ruhe und
Erholung bekommt. Wenn der Kranke letztere im eigenen Hause nicht
findet, muss er heraus aufs Land, ins Gebirge, oder in eine geeignete Heil
anstalt, wo er frei von seiner bisherigen Thätigkeit, frei von Geschäfts
sorgen etc. und fern dem Leben und Treiben der Stadt, nur der Ruhe und
der Erholung leben kann. Eine solche Erholungszeit muss auf 6—8 Wochen
bemessen werden.
Ferner muss die Lebensweise geregelt und naturgemäss geführt
werden. Die Ernährung hat einen mächtigen Einfluss auf die Nervosität,
wie die tägliche Erfahrung lehrt. Denn oft führt schon eine vernünftige
Diätetik allein eine bedeutende Besserung herbei. Wenn sonst nicht An
lass zu einer speziellen Diät vor Schrift vorliegt, so ist gewöhnlich die ge