Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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an Teil: „Mit gewalt’gem Fussstoss hinter mich schleudr’ ich das Schifüeinr 
in den Schlund der Wasser“); dann zog sie energisch an ihrer Kordel (dem 
Bindfaden), und hui! kam es wieder herbeigerollt. Es war gar amüsant 
anzusehen, und — wie muss die Erschütterung dem Kinde gut be 
kommen sein! 
Weiter! — 
Auf der nächsten Bank sass ein altes Brauchen, ohne Zweifel die 
Grossmutter des Kindes in dem Wägelchen vor ihr. Sie gehörte jedenfalls 
der ärmeren Volksklasse an; aber an Liebe entbehrte ihr Enkelchen nichts. 
Sie schob nicht das Wägelchen hin und her, — nein, das ward viel 
energischer bewegt; sie hatte es am Kopfteil gefasst, hob es da etwa 
einen Fuss hoch in die Höhe und stiess es dann wieder kräftig auf den 
Boden; so ging das wie ein Uhrwerk: Auf, ab, — auf, ab! 
Ich sagte der Grossmama freundlich Guten Morgen, setzte mich neben 
sie, fing vom schönen Wetter an, und wie gut es sei, die Kleinen in die 
frische Luft zu bringen; fügte auch hinzu, wie viel vorteilhafter und gesünder 
es für die Kinder sei, gestreckt in ihrem Bettchen zu liegen, als gekrümmt 
und zusammengesunken auf dem Arme der Mutter oder des Dienstmädchens 
zu sitzen u. s. w. Nachdem sie mir nun erzählt, wie alt der kleine Prinz 
sei und mir alle übrigen Familienverhältnisse mitgeteilt hatte, fragte ich 
langsam: „Sagen Sie einmal, warum stossen sie fortwährend das Wägelchen 
so stark auf? Das kann doch ihrem Enkelchen nicht gut thun. u 
„Das will er so haben“, entgegnete das gute Frauchen. 
„Aber“, wandte ich ein, „er kann doch nicht sprechen und kann nicht 
sagen, was er haben will.“ 
„Er ruht aber nicht“, erwiderte die Grossmutter; „wenn der nicht fort 
während geschaukelt wird, brüllt er wie ein Neuntöter.“ 
Nun blickte ich die Frau recht treuherzig an und bat in freundlichem 
Tone: „Thun Sie mir den Gefallen, das Wägelchen einmal stehen zu lassen; 
ich möchte doch erleben, ob der schweigt oder nicht.“ — Sie gewährte 
meine Bitte und — von dem „Gebrüll“ war nichts zu hören. 
„Sehen Sie“, sprach ich nach einer kleinen Weile, „es geht auch so.“ 
„Ja“, sagte sie, „jetzt einmal; aber sonst schreit er, dass einem Hören 
und Sehen vergeht.“ * 
Ich blieb noch etwa fünf Minuten bei der Guten sitzen, erinnerte sie 
daran, dass das Gehirn eines kleinen Kindes noch sehr weich ist und so 
heftiges Stossen nicht ohne Nachteil vertragen kann; dass selbst bei 
Erwachsenen starke Hirnerschütterungen bekanntlich sehr gefährlich und 
schädlich sind; dann sah ich noch einmal nach dem „Neuntöter“, — er 
schlief sanft und fest; ich reichte der Frau die Hand, grüsste sie und 
marschierte weiter. 
Nach hundert Schritten drehte ich mich um, — Grossmütterlein sass 
ruhig bei dem Wägelchen und sah nach mir her; ich zog noch einmal 
meinen Hut, und dann war ich für die Frau nicht mehr da, — aber wohl 
sie für mich. Dass ich mich um drehen und nach ihr sehen werde, das 
dachte sie sich; dessen war sie gewiss; nachdem das aber geschehen, 
nahm sie an, dass ich mich nicht weiter um sie kümmern werde, und nun 
triumphierte wieder die Grossmutterliebe über die Vernunft. Wie! Da sass 
sie neben ihrem Enkelchen, legte die Hände in den Schoss und that dem 
Kinde gar nichts zu Liebe? Nein, das konnte sie nicht übers Herz bringen. 
Als ich am Ende des Ganges war, da, von wo aus ich die Gruppe zum letzten 
Male erblicken konnte, drehte ich mich nochmals um, — und Gross 
mutter stiess das Wägelchen wieder taktmässig auf den Boden, 
puff, puff, puff, puff! — 
Es wurde lebhafter in den Anlagen. Da vor mir ward wieder ein 
Wägelein geschoben, und neben demselben schritt eine fein geputzte, jeden 
falls sehr reiche Dame her, die sich über das Wägelchen beugte und sich 
mit dem Kinde darin beschäftigte. Jetzt erblickte sie mich und rief im
	        
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