Volltext: Der Naturarzt 1898 (1898)

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die Milch verschleimt. Derjenige, welcher zuerst diese irrige Ansicht auf 
gebracht hat, muss gar nicht nachgedacht haben, denn, wenn er dies gethan 
hätte, müsste er sich doch gesagt haben, dass, wäre dies wirklich der Fall, 
alle Säuglinge verschleimen und vor Schleim umkommen müssten. Die 
Milch ist vielmehr das allerbeste schleimlösende Mittel und alle sogenannten 
schleimlösenden Mittel des Arzneischatzes — wenn man überhaupt von 
einem Arzneischatz sprechen darf — sind mit ihr gar nicht zu vergleichen, 
denn, wer jemals die Anhäufung des Schleims, namentlich bei vonvaltenden 
Katarrhen, und die durch die Kückenlage in der Nacht erschwerte Atmung 
und die dadurch gehinderte Ausstossung des Schleims (Expektoration) 
empfunden hat, wird merken, wie leicht sich der Schleim löst, wenn er 
eine Tasse lauwarmer Milch trinkt. Verzeihlich scheint es daher, dass der 
jenige, welcher zuerst den stärkeren Auswurf des Schleims nach dem Genuss 
von Milch beobachtet hat, auf den Gedanken gekommen sein mag, aber 
unverzeihlich ist es, dass er so viele Nachbeter dieser irrigen Ansicht 
gefunden hat. 
Eine fernere irrige Ansicht scheint mir die zu sein, dass der Schlaf 
vor Mitternacht der beste und gesundeste sei, ja man hört diese Ansicht 
sehr häufig aussprechen und erst kürzlich fand ich dieselbe im „Hausdoktor“. 
Niemand hat aber bisher, so viel ich weiss, den Beweis dafür geliefert, man 
kann vielmehr wohl annehmen, dass dieser Ausspruch aus dem Wunsch 
eines für das Wohl der Menschheit besorgten Hygienikers hervorgegangen 
ist, die auf die Erhaltung ihrer Gesundheit achtenden Leute von der Nacht 
schwärmerei und von dem langen Aufbleiben abzuhalten. Ich glaube, dass 
gerade der Schlaf nach Mitternacht der festeste und daher auch der beste 
und gesundeste ist, weil der Schlaf vor Mitternacht und der am Morgen 
meistens durch Träume gestört wird und also auch nur ein wenig erquickender 
Halbschlaf genannt werden kann. 
Eine dritte und nach meiner Meinung eine ganz irrige, aber weit ver 
breitete Ansicht ist die, dass die geistigen, Alkohol enthaltenden Getränke 
stärken sollen. Ich gebe zu, dass derjenige, welcher sich durch angestrengte 
Arbeit erschöpft fühlt, nach dem Genuss derselben animiert, d. h. körperlich 
und geistig angeregt und zur Fortsetzung der Arbeit gewissermassen gestärkt 
ist, aber von einer wirklich dauernden Stärkung kann gar keine Bede sein, 
denn es tritt sehr bald wieder eine Abspannung und Erschöpfung ein, die, 
wenn sie nicht durch eine frische Libation vertrieben, in Schlaf übergehen, 
wie man dies bei einem nicht an alkoholische Getränke Gewöhnten beobachten 
kann. Die Ermattung tritt aber auch bei dem daran Gewöhnten ein, aber 
wie das Pferd durch einen Hieb mit der Peitsche zu neuer Thätigkeit an 
getrieben wird, so weiss er sich durch einen neuen Trunk zu „stärken“. 
Ich will hier nicht erst auseinandersetzen, inwiefern diese Gewohnheits 
stärkungen dem körperlichen Organismus schaden, namentlich störend auf 
die Leber und den ganzen Verdauungsapparat und damit auch verderblich 
auf das Herz — denn in keiner Stadt Deutschlands giebt es soviel Herz 
kranke als in dem am meisten Bier vertilgenden München — ein wirkt. Es 
wird mir mancher hier einwerfen und sagen: „ich kenne doch mehrere Leute, 
die täglich ganz tüchtig Bier, Wein usw. trinken und dabei über SO Jahr 
alt und ganz gesund sind“, aber er bedenkt nicht, dass wir Menschen in 
unsern Konstitutionen sehr verschieden sind und die meisten, welche sich 
an einen solchen Genuss gewöhnt haben, selten das sechzigste Jahr erreichen 
und während eines grossen Teiles ihres Lebens an Beschwerden aller 
Art leiden. 
Hieran schliesst sich sachgemäss der irrige aber wohlgemeinte ärzt 
liche Bat, dass das Alter dieser „Stärkung“ nicht entbehren könne, doch 
kenne ich viele Greise in den achtziger Jahren, die geistig und körperlich 
frischer sind als die sechziger Genussmenschen, denn ich habe mich daran 
gewöhnt, fast alle dekrepiden Greise auf den Strassen Berlins anzureden 
und sie nach ihrem Alter und ihren Lebensgewohnheiten zu fragen, und ich
	        
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