Volltext: Der Naturarzt 1896 (1896)

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„Annie, du kannst ja ordentlich heftig- werden! War dein Freund bräun 
mit langem Behang? Es thut mir deinetwegen leid, aber gerade seiner 
Intelligenz wegen war es ein interessantes Versuchsobjekt. Nun aber komm’, 
gieb mir einen Kuss, wir wollen Frieden machen!“ 
,,Frieden mit dir!“ es klingt wie ein Schrei, weit weicht Annie zurück — 
„niemals, niemals!“ 
„Sei keine Närrin! Ich dulde keinen Widerstand, Annie! Soll ich dir 
erst zeigen, dass ich dein Herr bin?!“ 
Die Augen der beiden Hatten begegnen sich; in denen des Mannes 
liegt eine kalte Drohung, in denen der jungen Frau Zorn und Verachtung. 
„Mein Herr!“ lacht Annie Maurer auf, leise und seltsam — „Du bist 
nicht mein Herr, wirst es nie! Nur dein Geist könnte den meinen unter 
jochen, die Läuterung desselben aber bestreite ich nach meinen neuesten Er 
fahrungen.“ 
„Sentimentale Phrasen, du bist meine Frau und hast dich zu fügen!“ 
„Das heisst, wenn ich will!“ Das sanfte, schweigsame Weib ist plötzlich 
ganz verwandelt, ihre Gestalt ist stolz aufgerichtet, ihre Augen flammen — 
„wenn ich will, beachte das wohl. Mich knebelst und schlachtest du nicht 
lebendig und ohne Kampf, wie deine Opfer dort drüben, denn kraft meines 
Geistes verteidige ich mich und bin auf meiner Hut.“ 
„Annie, du redest irre — du bist krank— sonst würde ich dir anders antworten!“ 
Annie entgegnet nichts, sie eilt in ihr Zimmer und sinkt dort wie leblos 
zusammen. 
Tage vergehen! Die Gatten sehen sich kaum. Annie macht vergebens 
den Versuch, ihr Grauen vor dem Manne zu bekämpfen, mehr um des teuren 
Vaters, als um Dr. Maurer’s willen, aber alles, alles ist umsonst. Die Qualen 
der Seele steigern sich, sie beginnen körperliche zu werden. Annie fährt zu 
weilen entsetzt empor, Aeclizen und Stöhnen dringt in ihr Ohr — der Schlaf 
flieht sie — immer sieht sie zwei kluge, treue Angen in Qual und Pein an 
klagend auf sich gerichtet —- Hektor’s Augen. — Da fasst Annie endlich einen 
Entschluss. Sie will das Einzigste thun, was noch möglich ist, ihren Verstand, 
ihr Leben für den fernen Vater zu retten, sie will zu ihm. 
Es ist eine dunkle, unheimliche Nacht, Dr. Maurer ist über Land zu 
einem Kranken. Geräuschlos packt Annie wenige Sachen in eine Handtasche, 
sendet Paula zu Bett und tritt ungesehen, ohne einen letzten Abschiedsblick 
hinaus in den Garten. Dürre Blätter rascheln unter ihren Füssen, über ihr in 
den Baumkronen ächzt der Wind. Nun stellt sie an der Pforte. 
Was ist das! Sie ist verschlossen — noch einmal umkehren, noch einmal 
zurück in das Haus, wo sie so elend gewesen — nein, nein. — 
Weiter hinten ist die Mauer niedrig, es wird, es muss Annie gelingen 
hinüberzusteigen — schnell durchschreitet sie den Garten. — 
Da — da taucht eine Gestalt, wie aus der Erde emporgewachsen vor ihr 
empor und eine drohende Stimme sagt: 
„Also doch — so hat meine Ahnung mich ja nicht betrogen!“ 
Ohne einen Laut, wie in’s Herz getroffen, stürzt Annie zusammen. Es 
ist ihres Mannes Stimme, es sind seine Arme, die sie in’s Haus tragen. 
Als Annie endlich aus ihrer Ohnmacht erwacht, liegt sie in ihrem weissen, 
spitzenbesetzten Bett und die Dämmerung- des Morgens blicht durch die Fenster 
herein. Annie erhebt sicli aus den Kissen, ihr graut vor dem Alleinsein — 
sie will Paula herbeirufen — die Thür ist verschlossen. — 
Schwindelnd schliesst das junge Weib die Augen — was ist das — was 
soll das bedeuten. — 
Gott im Himmel! Da fällt es ihr ein: Ich bin dein Herr! 
Schmach über den Mann, der ein Weib zwingen will! Nicht ohne Kampf 
soll Bichard Maurer sich ihrer bemächtigen — nicht widerstandslos will sie 
sich ihm unterwerfen. 
Immer im Nachtgewande, mit flammenden Augen, glühenden Wangen 
beginnt Annie ihre Arbeit. Mit übernatürlicher Kraft türmt die zarte Frau
	        
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