Volltext: Der Naturarzt 1896 (1896)

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Selbst in einzelnen „post graduate schools“ (permanente Anstalten, 
welche ähnliches bezwecken wie Ihre „Ferienkurse“) hörte man früher 
hier, jetzt noch in Chicago, von Frauen, welche als Lehrer beschäftigt 
werden. 
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Ich habe oft in früherer Zeit den Vorwurf gegen weibliche 
Aerzte aussprechen hören, dass sie nicht heiraten und Kinder gebären. 
Die Vorwürfe wurden allerdings niemals von Männern gemacht, welche 
sich erboten, das betreffende Frauenzimmer selber zu heiraten oder 
ihr einen Mann zu verschaffen, vorausgesetzt, dass derselbe annehm 
bar gewesen wäre. Leider giebt es ja noch zu viele Weiber in der 
Welt, der Ueberschuss ist noch immer grösser, als, statistisch zu 
reden, die vorhandene Anzahl weiblicher Aerzte. Die letzteren, wenn 
sie nicht Mediziner und praktische Aerzte geworden wären, würden 
aber etwas anderes Grosses geworden sein — vielleicht auch nicht — 
z. B. Ladenmädchen, Fabrikarbeiterinnen, Tanten für die Kinder der 
bevorzugten Schwester, vielleicht gar bloss Dachstubenschwägerinnen, 
auf alle Fälle „alte Jungfern“, in vielen Fällen mit dem bekannten 
körperlichen und geistigen Altjungferntypus. Leider ist das Bild 
nicht übertrieben. Nur kann ich aus Erfahrung sagen, dass der 
letztere Typus bei den vielen weiblichen Aerzten, welche ich kenne 
oder gesehen habe, nicht häufig ist. Der charakteristische Altjungfern 
habitus ist bei keiner vorhanden, sie sehen befriedigt aus. Bei so 
sehr vielen ist der damenhafte Typus in die Augen fallend, dass die 
wenigen, die ihn nicht zeigen, ihn wohl nie besessen haben. Auf 
alle Fälle hat das Arztsein dem Frauenhaften keinen Abbruch gethan. 
Das ist Erfahrungssache. 
Die Stellung der ärztlichen Weiber in den medizinischen Kreisen 
der Stadt ist eine angenehme, insofern als Geschlechtsverschieden- 
heiten nicht bemerkt werden. Es fällt ebenso wenig auf, eine Frau 
in eine medizinische Gesellschaft kommen und sich auf den ersten 
besten Stuhl setzen zu sehen, wie in einem Strassenb ahn wagen. Ich 
weiss nicht, ob eine junge Person sich anfangs geniert fühlt, mir ist 
■es nie so erschienen. Sie ist so sicher unter medizinischem Dache 
wie eine Engländerin unter ihrer Flagge — civis Komanus, Ob eine 
bei einer geschlechtlich heiklen Demonstration die Augen nieder 
schlägt oder abwendet? Ich weiss nicht, habe niemand darauf an 
gesehen, und kein Mann, der sich selber achtet, thut das. Eine hoch 
gebildete Oesterreicherin, in der Schweiz promoviert, sah sich häufig 
unter 30 bis 50 männlichen deutschredenden Kollegen, von denen sie 
gern gesehen und hochgeachtet wird. Sie behandelt die Medizin wie 
©in Gentleman oder eine Lady ihr Fach behandelt. Deutsche Kollegen 
verhielten und verhalten sich genau wie die Eingeborenen. Was ich 
über andere Städte weiss, Boston, Chicago, Philadelphia, stimmt mit 
dem, was ich Ihnen über New-York sage, genau überein. 
Die Stellung der weiblichen Aerzte im Publikum ist genügend 
gesichert. Vor langen Jahren fand sich hier auch derselbe Widerstand, 
welcher innerhalb des ärztlichen Standes ursprünglich herrschte. Es 
traf sich aber, dass jungen Damen aus „guten“ sogar aus „sehr guten“ 
Familien der Medizindrang zu Kopfe stieg. Damit war der Würfel 
gefallen und der nicht breite Kubikon überschritten.
	        
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