Volltext: Der Naturarzt 1896 (1896)

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Das medizinische Frauenstudium in Amerika.*) 
Offenes Schreiben von Prof. A. Jacobi in New-York. 
Sie wollten meine Erfahrungen über die Befähigung und di© 
praktischen Leistungen der weiblichen Aerzte kennen lernen. Di© 
Berechtigung, meine Meinung überhaupt auszudrücken, gründet sich 
auf persönliche Kenntnis vieler der in Betracht kommenden That- 
sachen. Ich habe mehr als 42 Jahre in der grössten Stadt Amerika© 
praktiziert, kenne den ärztlichen Stand der Stadt und der Vereinigten 
Staaten, in dem ich privatim und amtlich viel verkehrt habe, 
ziemlich genau und bin persönlich mit der Weiberfrage von dem 
Grundsatz der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 aus, welch© 
den Unterschied von Farbe, Religion und Geschlecht nicht anerkennt, 
leicht fertig geworden. Da ich also in dieser Angelegenheit weder 
Gegner noch fanatischer Anhänger jemals gewesen bin, so habe ich 
ihrer Entwickelung ruhig zugesehen und nur selten thätig Vorschub 
geleistet. Eine, der wenigen Ausnahmen war die, dass ich, ohne viel 
Wesens zu machen und deshalb ohne Widerspruch zu finden, im 
Jahre 1872 das erste weibliche Mitglied in die grosse Gesellschaft 
des County of New-York aufnahm.. 
Die erste medizinische Schule für Frauen wurde wenige Jahr© 
vor meinem Eintritt in den ärztlichen Stand und nach mancherlei 
Versuchen einzelner, in den bestehenden Schulen zugelassen zu werden, 
1850 in Philadelphia gegründet. 
Sie besteht noch. Als Lehrerin der Bakteriologie ist vor kurzem 
eine junge Dame ernannt, welche in Berliner Kreisen so bekannt ist, 
dass sie von einigen Ihrer anerkannten Grössen mit ausführlichen 
und dringenden Empfehlungsbriefen, auch an mich, versehen wurde. 
Jener ersten Schule folgten andere, deren Gründung dadurch nötig 
gemacht wurde, dass Frauen die Zulassung zu den bestehenden 
Schulen verwehrt wurde. In der That stellten sich weder Studenten 
noch der ärztliche Stand der Weiberarztfrage freundlich gegenüber. 
Bostoner und Philadelphiaer Studenten betrugen sich so flegelhaft 
und brutal, dass den Weibern die Lust verging, ihre • Gesellschaft 
weiter aufzusuchen, und die praktischen Aerzte sahen der Vermehrung 
weiblicher Aerzte, besonders solcher, welche der geburtshilflichen 
Praxis gefährlich zu werden drohten, nicht mit freundlichen Blicken 
entgegen. Gerade wie bei Ihnen wuchs bei den Aerzten die Sorge 
für das Wohlergehen der Frauen mit deren Lust, Aerzte zu werden; 
es wurde ihnen bewiesen, dass ihre Schamhaftigkeit nnd Tugend Not 
leiden werden, dass die Details der medizinischen Studien revoltierend 
seien; dass sie zu schwach seien und zu gut und zu edel u. s. w. 
Dabei wird vorausgesetzt, dass die männlichen Studenten und Aus- 
über der Medizin beinahe so berühmt sind wegen ihrer Bescheidenheit, 
Nüchternheit und allgemeinen Zahmheit wie die der Theologie. E& 
*) Der deutsch-amerikanische Professor der inneren Medizin, A. Jacobi, hat ein 
offenes Schreiben an die „Deutsche medizinische Wochenschrift“ gerichtet, welche© 
die .Redaktion mit folgenden Begleitworten veröffentlicht hat: „Ohne mit allen Aus 
führungen unseres verehrten Korrespondenten übereinzustimmen, glauben wir ihm für 
seine frisch und lebendig gehaltene, freier und unbefangener, als es bei uns gewöhnlich 
geschieht, an die^ Frage heran tretende Zuschrift unseren besonderen Dank aussprecheB 
zu müssen.“ Wir geben einen Teil der interessanten Ausführungen wieder.
	        
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