Volltext: Der Naturarzt 1896 (1896)

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kann. Lasst uns bedenken, dass Jeder von uns als Bindeglied zwischen 
zwei Welten steht: als Folgewirkung der Vergangenheit und wiederum 
als Ursache nach der Zukunft hin. Lasst uns unsere heilige Sache 
nicht zu blossem Sport herunterzerren, sondern durch die Propaganda 
der That der Welt beweisen, dass wir unsere sieghaften Schatten 
nach der fernsten Zukunft zu werfen vermögen. 
Wenn ich aber zum Masshalten und zur Einfachheit in allen 
Dingen des Lebens das Wort ergreife, so möge niemand annehmen: 
die Askese solle unser Ideal bilden. Ach nein! Solange wir in der 
Welt leben, wollen wir ruhig weltlich gesinnt sein. Und solange wir 
fünf gesunde Sinne haben, wollen wir immer auch hübsch sinnlich 
gesinnt bleiben. „Die Freude ist des Lebens höchstes Ziel!“ ruft 
der schon einmal citierte Robert Hamerling aus. Das berühmte 
Rousseau-Wort: „Gehet in die Wälder und werdet Menschen“ — 
wollen wir nicht gar zu wörtlich aufgefasst wissen. Der Wald, den 
unser Neisser Eichendorff wie kaum ein anderer deutscher Dichter 
besungen hat, soll zwar unserer Lust und Wehen andächtiger Aufent 
halt sein— aber so ganz und gar auf alle Kultur, auf alle Kunst und 
Wissenschaft wollen wir denn doch nicht verzichten! 
Und darum schädigen sie uns, jene Schwarmgeister und Utopisten, 
die da nur immer das Wort des grossen Socrates im Munde führen: 
„Nichts bedürfen, ist göttlich — und. am wenigsten bedürfen, nähert 
der Gottheit am meisten! “ V er ehrte Freunde! Wir sind Menschen. 
Bleiben wir Menschen. Wir wollen keine Götter sein, die übrigens 
auch gar nicht so in Bedürfnislosigkeit, wie es der entgötterte Socrates 
wissen wollte, dahinlebten. Wem ein Elysium offen steht, und wer 
von einem Ganymed und einer Hebe Nektar und Ambrosia gereicht 
erhält, der soll uns armen Menschenkindern unser bischen Erdenlust 
und Lebensfreude ruhig gönnen. Schauen wir auch* die Natur selbst 
an! Sie schwelgt förmlich in Pracht und Glanz, in Blüten und Frucht 
fülle — also in lauter idealen Genüssen. Und da sollte der Mensch 
dumpf und stumpf’ als ärmster aller Bettler oder gar — verzeihen Sie 
diesen Ausdruck — als Höhlenbär im Walde dahinvegetieren? Ach 
nein, Gesinnungsgenossen, das kann es nicht sein. Verlernt, o, verlernt 
mir darum das Wort Bedürfnislosigkeit, das so oft in unseren Reihen 
herüber- und hinüberfliegt! Nur verstehet mich recht! Was Speise 
und Trank und Kleidung angeht, da möge Jeder mit dem Einfachsten, 
Natürlichsten, Gesündesten auskommen. Giebt es nicht aber auch 
geistige Genüsse, die uns das Leben erst recht lieb und wert machen? 
Ich denke an die Musik, an die Dichtkunst, an die Malerei und 
Plastik — mit einem Wort: an Kunst und Wissenschaft. Und gehört 
nicht auch das Reisen zu den idealsten Bildungsfaktoren und Erziehungs 
mitteln ? 
Im Gegensatz sage darum ich: Unsere Bewegung für natur- 
gemässe Lebensauffassung hat die Bedürfnisse direkt vermehrt. 
Denken Sie an die Wohnungs-, Bekleidungs- und Ernährungsfrage. 
Denken Sie an die tägliche Reinigung des Körpers und an den aus 
gedehnten Aufenthalt in der frischen, freien Gottesluft. Wir sind 
also auf der einen Seite sogar sehr anspruchsvoll geworden und haben 
die Unzufriedenheit im Lande gesteigert, indem wir in vielen uralte 
natürliche Bedürfnisse wieder weckten und methodisch ausbildeten. 
Aber diese unsere Steigerung, der Unzufriedenheit liegt im Interesse
	        
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