Volltext: Der Naturarzt 1894. (1894)

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Badediener nnd alte Kurgäste erzählten. Das Wichtigere ist protokollarisch 
aufgenommen und notariell als echt beglaubigt worden. In einer dieser 
vielen Urkunden vom Jahre 1885 sagt der 1811 in Polnisch-Ostrau geborene 
Badediener Johann Ostrowsky aus: „Es war 1848. Ein polnischer Gral kam 
mit einem Rückgratleiden nach Gräfenberg. Er fühlte immer Kälte zwischen 
den Schulterblättern. Die Anfangskur bestand in nassen Einpackungen und 
Halbbädern. Sie nutzte nichts. Er klagte es dem Prießnitz. Da gab dieser 
ihm folgendes Verfahren: Vor- und nachmittags wurde ein leeres Sitzschaff 
in das Zimmer gestellt und ein Brett querüber gelegt. Der Herr Graf ent 
kleidete sich, und ich nahm eine Eiasche mit Naturwasser und leitete den 
dünnen Strahl derart, daß der Kücken langsam begossen wurde, das Rück 
grat herab. Es wurde nie mehr als eine Eiasche vergossen. Sonst hatte er 
keine Kur. Vom ersten Tage an besserte sich der Zustand, sodaß der Graf 
ganz geheilt abreiste.“ Nachdem man heutzutage statt der Gießkanne wieder 
den Schlauch eingeführt hat, ist der Guß wieder zur regelrechten Douche 
geworden.- In Gräfenberg gab es früher eine besondere Kurform, die „kalten 
Begießungen“, worüber in Stuhlmanns Buche ein ganzes Kapitel zu lesen 
steht. Man saß oder stand in einer leeren Badewanne, und der Badediener 
goß aus dem kleinen Holzschöpfer, der heute noch existiert, einen Wasser 
strahl den Kücken herab oder auf irgend einen andern Körperteil (Arm, 
Bein). Diese partiellen Begießungen wurden, sagt Stuhlmann, viel angewandt. 
Da haben wirs. Alles schon dagewesen! Vielleicht erscheinen diese Dar 
legungen Manchem kleinlich. Nun, ich denke, wenn z. B. auf literari 
schem Gebiete all© Wäschezettel Goethe’s und anderer Größen in Museen 
gesammelt und von urgelehrten Professoren zu den längsten kritischen Er 
örterungen, die niemand etwas frommen, benutzt werden — so dürfen wir, 
die dem Wasser Leben und Streben verdanken, doch wohl auch unserm 
Heros diese kleine Gerechtigkeit widerfahren lassen, da ein unwürdiges Pyg- 
mäentum in der Selbstglorifikation neuerdings förmlich aufgeht. 
Daß das Barfußgehen als Kurmittel in Gräfenberg seinen Anfang ge 
nommen hat, wissen auch viele nicht —- weil sie überhaupt nichts wissen! 
Prießnitz ließ seine Kurgäste barfuß und barhäuptig gehen. Heute noch 
läuft in Gräfenberg alles, was zur Kur da ist, ohne Kopfbedeckung herum. 
Wer die alten Bilder sehen will, welche Damen und Herren beim „Thau- 
bade“ zeigen, der braucht nur nach Gräfenberg zu kommen. Die Barfuß 
wiese bei der „Altmannsfreude“ wird ihm davon erzählen. In dem aus 
gezeichneten Buche: „Vier Jahre in Gräfenberg“, erzählt der Franzose Kul, 
was ich auch in meinem Prießnitzvortrage zitierte: Als Prießnitz einst mit 
einem österreichischen Prinzen im großen Kursaale stand, um ihm die vielen 
Elaggen zu erklären, kam ein französischer Abb6 barfuß herein. „Gehen 
bei Ihnen die Patienten so?“ fragte der Prinz spöttisch lächelnd. „Ja, 
Hoheit“ — antwortete Prießnitz, „wenn sie an kalten Eüßen leiden!“ In 
den bereits citierten „Hausblättern“ von E. W. Hackländer sagt Stuhlmann: 
„Herren und Damen, barfuß wandelnd, zu treffen, gehörte der 
zeit (1846) zu den gewöhnlichen Erscheinungen auf dem Gräfen 
berg e. Aber es erregte doch ein beträchtliches Aufsehen, als einige 
polnische Herren auch die Aermel ihrer Leinwandblousen und Hemden, dicht 
an den Schultern abschnitten. Und als gar ein englischer Methodisten 
prediger, im unschuldig heiligen Bewußtsein: daß dem Keinen alles rein sei, 
die Beinkleider ablegte und sich auf den Promenaden dar stellte — da ent 
stand doch eine Revolte, und das unschuldsvolle Kind Albions wurde vom 
Gesellschaftsverbande genötigt, wiederum den Frondienst des Hosenteufels 
auf sich zu laden.“ Heute hat man zur Erwärmung und Muskelkräftigung 
den Ergostaten. Prießnitz ließ die Kurgäste Dünger laden, Holz hacken, 
Holz sägen etc., von welcher Arbeit auch gekrönte Häupter wie z. B. der 
jetzige Großherzog von Luxemburg nicht ausgenommen waren. 
Üeber das. Kapitel „Prießnitz und die Aerzte“ ließe sich sehr viel 
sagen. Ganz besonders müßte ich hier einen wahrhaft klassischen Satz von
	        
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