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Die Naturheilkunde vor Gericht.
Von der Redaktion.
Am 2. Oktober ist vor der Magdeburger Strafkammer ein Fall verhandelt worden?
der unser ganzes Interesse in Anspruch nehmen muss. Ueber die Geschichte desselben
giebt uns der ausführliche Bericht der „Magdeburger Volksstimme- näheren Aufschluss.
Die Thatsachen sind kurz folgende:
In der Behandlung des Angeklagten A. Seebach, der dort eine Badeanstalt besitzt
und die Naturheilkunde praktisch ausübt, befand sich vom Juli 1889 bis zum Januar
1890, also Va Jahr, J 0r Lehrer Börstel. B., der seit 5 Jahren an tuberkulösen Ge
schwüren litt, ist dann aus Seebachs Behandlung fortgeblieben, hat 1 Jahr in der Klinik
des Dr. Schede zugebracht, wo ihm im Februar 1890 das rechte Bein amputiert
wurde, und ist am 15. Januar 1891 gestorben, nachdem er noch kurz vor
seinem Tode mit Tuberkulin geimpft worden war.
Die Anklage behauptet nun, gestützt auf die medizinischen Gutachten: dass die
Amputation des Beins nicht nötig gewesen wäre, wenn der Verstorbene nicht von Seebach
verpfuscht worden wäre, dass S. also den Tod des Börstel durch seine Fahrlässigkeit
verschuldet habe, und daher hat die Staatsanwaltschaft Seebach wegen fahrlässiger
Tötung in Anklagezustand versetzt.
Die Verhandlung dauerte von 9—8 1 / 2 Uhr am Tage. Verteidiger Seebach’s waren
die beiden Rechtsanwälte Ullmann-Magdeburg und Volkmar-Berlin. Neben den vier
medizinischen Sachverständigen aus Magdeburg waren noch die Naturärzte Dr. med.
Schreiber-Frankfurt a./M., Dr. med. Häusler-Nürnberg und Dr. med. Struve-Cottbus geladen.
Der Angeklagte erklärt, dass nach seinen Erfahrungen und nach der darüber
handelnden Litteratur Tuberkulose durch Anwendung der Naturheilmethode zu kurieren
sei; es müsse allerdings zwischen Krankheiten des 1., 2. und 3. Stadiums unterschieden
werden. Börstel habe sich nun zwar im 3. Stadium befunden, aber auch bei diesem vor
geschrittenen Grade der Krankheit seien schon Fälle der Heilung vorgekommen. Als
Kurformen habe er angewandt: streng vegetarische Diät, milde Dampfbäder, Rumpfbäder
und Reibesitzbäder (Seebach ist nämlich Vertreter des Kuhnismus).
Die medizinischen Sachverständigen behaupteten: Das eiternde Kniegelenk hätte
durch Seebach müssen aufgeschnitten und der Eiterherd öfter ausgekratzt werden. Die
Ernährung musste vornehmlich in Fleisch, Eiern und Wein bestehen. Ein ein- bis
zweimaliges wöchentliches Dampfbad schwäche den Körper. Die Behandlung mit dem
Koch’schen Tuberkulin könne nicht nachteilig gewesen sein, denn es seien Todesfälle dem
Sachverständigen (Herrn Dr. Paul Sendler) nicht vorgekommen; Virchow’s ungünstiges
Urteil sei nicht massgebend, da Virchow keine Patienten beobachtete, sondern nur
Sektionsbeweise vorführte. Sanitätsrat Böhm behauptet: Börstel sei durch die Wasser
pfuschereien und die Dampfbäder maltraitiert worden. Die Herren: Dr. med. Häusler,
Dr. med. Struve und Dr. med. Schreiber weisen nach, dass vegetarische Kost die Eiterung
einschränke, milde Wasser- und Dampfbäder den Körper von schlechten Säften reinigen,
die medizinische Operationsstatistik nach Billroth, Schüller und anderen Autoritäten bei
solchen Leiden die geringsten Prozentsätze von Heil uv gen aufweisen, dass die Tuberkulin-
Einspritzungen entschieden dem Börstel geschadet hätten, wie auch seine Postkarte an
seinen Bruder, worauf er klagt: er habe auf die Einspritzung stark gefiebert, Uebelkeit
und Erbrechen erlitten, beweise.
Die beiden Verteidiger Seebach’s legten auch in längeren Auseinandersetzungen
dar, dass die Seebach’sche Behandlung keineswegs mit dem so lange darauf unter
medizinischer Behandlung erfolgten Tode in Verbindung gebracht werden könne. Der
erste Staatsanwalt beantragte 3 resp. 2 Jahre Gefängnis „wegen grober Gefährdung
eines Menschenlebens“ oder „grober fahrlässiger Körperverletzung.“ Der Gerichtshof er
kannte auf 4 Monate Gefängnis und Tragung der Kosten.
Der Fall zeigt abermals, dass es um die angeklagte Naturheilmethode noch recht
lange traurig bestellt sein werde, und zwar so lange, als die Rechtsprechenden selbst
noch medizinisch denken und folgern ,,und so lange man Aerzte als Sachverständige“
lädt, die von der Sache nicht nur nichts verstehen, sondern, die sie im Grunde ihres
Herzens hassen. „Ich finde keine Schuld an ihm!“ möchte man mit Pilatus rufen.
Seebach’s Logik war diese: Heilung bei diesem verzweifelten Falle? Wir wollen es ver
suchen, denn die Naturheilkunde hat ja schon so oft Wunder gewirkt. Der Mann hat
kranke Säfte, darum wollen wir ihn recht reizlos ernähren und durch Wasser und Dämpfe
die Unreinigkeiten aufscheuchen, ausscheiden und abspülen — daneben das Nervensystem
beleben. Die Eiterstellen auskratzen? 0 nein! Die Ursache der Eiterung beheben,
den örtlichen Eiterherd nur reinlich halten. So wollen wir’s halten. — Was die
medizinische Diät: Fleisch, Eier, Alkohol etc. angeht, so hat der dumme Fuhrmann
Schroth s. Z. dem Erbprinzen Wilhelm von Württemberg, der jetzt an dör Thronfolge