Volltext: Der Naturarzt 1889 (1889)

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genheit dazu. So übergiebt man die Kleinen den Wärterinnen, damit diese 
in freier Luft denselben Erholung verschaffen. Zumeist liegt ihnen die eigene 
Erholung wei: mehr am Herzen. Da das Gängeln eine mühsame Arbeit ist 
und die interessante Unterhaltung darunter entschieden leidet, so zieht man sich 
seine Schutzbefohlenen zu eigener Bequemlichkeit. Man sieht keine trippelnden 
Füßchen; die kleine Gesellschaft sitzt fest gebannt auf dem Schooß der Warte 
frau oder neben derselben auf der Promenadenbank. Drängt aber der mächtige 
Trieb zur Bewegung und Thätigkeit, verlangt das kleine Geschöpf zappelnd 
und schreiend zu Boden gesetzt zu werden, um kriechend, greifend, laufend sich 
die Zeit zu vertreiben, so bringt die scheltende Stimme oder ein wohlgemeinter 
Klaps den kleinen Rebellen wieder zur Ruhe und irgend welche mitgenommene 
Eßware dient dazu, ihm kauend Beschäftigung zu verschaffen. Nach und rach 
sind die kleinen Störenfriede richtig gedrillt und machen keine weiteren Umstände. 
Die unnatürliche Sittsamkeit wird von den Angehörigen als besondere Artigkeit 
belobt, zumal das zarte Kleidchen, das weiße Schürzchen auch beim Heimkommen 
noch in tadelloser Weiße prangt. Ließe man den Kindern ihren Willen, so 
wäre wohl bald nichts mehr von dem niedlichen Püppchen zu sehen. Aber 
ist es denn auch nötig, die Kinder schon dem Kleiderzwange zu unterwerfen? 
Ein einfaches Röckchen, ein dunkles Schürzchen thun es auch. Und giebt es 
für schmutzige Gesichtchen und Händchen nicht Wasser die Menge? Ei seht 
nur, wie unter der reinigenden Hand gar frisch und rot die Bäckchen werden, 
die Finqerchen, von der grauen Staubhülle befreit, so rosig leuchten! 
Das Kindchen wächst heran. Aus dem Arme der Amme kommt es an 
die Hand der Bonne, an welcher es geleitet wird wie ein Hündchen am Seil. 
Wie dieses zerren die Kleinen voll Ungeduld an ihrer Feffel, blicken sehnsüchtig 
auf die Genossen, welche frei auf der Gasse spielend sich herumtreiben, reißen 
sich wie diese wohl auch einmal los, um davonzulaufen, werden leider rasch 
wieder eingefangen und für diese arge Unart derb gescholten. Sie dürfen 
nicht heiter und ausgelaffen sich tummeln, wie die eingeborene Lust sie manch 
mal treibt. Sie müssen auf Zierlichkeit, ceremonielle Höflichkeit, gesittetes 
Wesen schon mit ihren 3 Jahren sehen. Können sie noch einige Liedchen 
singen, Gedichtchen hersagen, einige Kunststückchen machen, so sind sie Ausbunde 
von Klugheit und Liebenswürdigkeit. Eitelkeit, Selbstüberhebung müssen die 
frohe Sorglosigkeit der Jugend ersetzen. Kaum kann das Kindchen sprechen, 
so beginnt, wiederum verfrüht, die Lehrsucht. Man läßt dasselbe nicht selbst 
finden, selbst beobachten, selbst denken. Das geht zu langsam. Man läßt die 
angeborene Wißbegierde nicht erwachen, man antwortet, ehe die Frage laut 
wurde, man erklärt, belehrt, übt das Gedächtnis und — stumpft das Denken, 
Beobachten, Aufmerken ab. Wie man die Kleinen füttert, ohne daß sie 
Hunger verspüren und zwar mit Dingen, nach denen ihr Gaumen nicht verlangt, 
so nährt man den Geist ohne seinen Wunsch mit Sachen, die für ihn auch 
noch unverdaulich sind. Und wie durch ersteres Versehen Appetitlosigkeit oder 
Eßlust ohne Erfolg eintritt, so verliert sich durch letzteres der naturgemäße 
Wissenstrieb, auf dem allein fruchtbringende Erfolge des Unterrichts erzielt 
werden können, oder angestachelte Ehrsucht treibt zu rastlosem Lernen und 
Aufnehmen von Wiffen, das nicht bildend für Geist und Charakter wirkt, sondern 
als toter Ballast die Verstandeskräfte aufsaugt, ohne Früchte zu tragen. 
Wäre die Bonne nur. was sie sein sollte, das wachsame Auge, das 
eure Lieblinge vor Gefahren behütet, nur der sich willig öffnende Mund, der 
ihren neugierigen Fragen die verständliche Antwort giebt, dann wäre sie am 
rechten Platz 
Noch möchte ich schließlich eines großen Irrtums erwähnen, welcher
	        
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