Volltext: Der Naturarzt 1887 (1887)

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Mangel leidenden Truppen, bei Säuglingen und Greisen eine andere als im Mannesalter, in Nord 
ländern eine andere als in den Tropen, bei den Indianern Amerikas eine andere als bei den 
Bauern der Alpenlänöer, beim Grobschmidt eine andere als beim Schneider oder Gärtner; kurz 
die Verschiedenheit des Klimas, der Nahrungsweise, der Beschäftigung, der Wohnungsverhälniffe, des 
Alters, der Race re. sind geradezu endlos und diese haben auf die Entstehung von Krankheiten 
und auf die menschliche Lebensdauer so wesentlichen Einfluß, daß sie bei der Furage, ob und wie 
man Epidemien steuern könne, zunächst ins Auge gefaßt werden müßen. 
Niemand wird sich wohl in seinen Hoffnungen so weit versteigen, daß es jemals gelingen 
werde, so ideale Zustände herzustellen, daß Krankheiten etwa nur ausnahmsweise vorkommen und 
der Tod an Altersschwäche das normale Lebensende der großen Mehrzahl sein wird, denn jene 
Schädlichkeiten, die mit verschwindenden Ausnahmen den Menschen ein viel früheres Ende bereiten, 
sind theils von solcher Art, daß es überhaupt nicht in menschlicher Macht liegt, sie zu beseitigen, 
wie cosmische und tellurische Einflüsse, theils Ergebnisse von Sitten und Gewohnheiten oder socialen 
Zuständen, die wesentlich zu bessern auch sehr häufig, wenigstens in kurzer Zeit, kaum möglich ist. 
Ein Theil der Menschen stirbt eines gewaltsamen Todes in Folge von Kriegen, Unglücksfällen, 
Clementarereignissen, Verbrechen, Selbstmord, der größte Theil jedoch in Folge von Krankheiten aller 
Art, entweder nach längerem Siechthum, wie bei Lungenschwindsucht, Leber- und Magenleiden, Gicht rc. 
oder nach verhältnißmäßig kurzem Verlauf, wie es bei Entzündungen edler Organe, Cholera, Typhus, 
Gelbfieber, Ruhr, Scharlach, Blattern, Masern, Keuchhusten, Diphtheritis der Fall ist. Diese letzteren 
acuten Krankheiten sind es insbesondere, die von Zeit zu Zeit als Massenerkrankungen besonders in 
der Kinderwelt auftreten und sogenannte Epidemien bilden. 
Obwohl in der Regel nnendlich mehr Menschen wenigstens in civilisirten Ländern an chro 
nischen Krankheiten, wie Tuberkulose, Magen- und Darmkrankheiten zu Grunde gehen als an epidemi 
schen, so sind es doch vorzüglich diese letzteren, denen man ärztlicherseits besondere Ausinerksamkeit 
widmet und die „auszurotten" das angebliche Ziel der verschiedendsten Sanitätsmaßregeln ist und 
von jeher das Versprechen aller Charlatane war, von den Blatternbelzern des Orients angefangen 
bis zu den Bacillenjägern der Neuzeit. 
Vor einigen Jahren hat einmal Sanitätsrath ikorlufer in der wiener med. Wochenschrift 
einen Artikel über Richtcontagiosität der Blattern veröffentlicht, der bei seinen Collegen wahres 
Entsetzen hervorgerufen, denn was würde aus all den schönen Sanitätsmaßregeln, die so nutz 
bringende Gelegenheit zur Vielgeschäftigkeit bieten, aus Impfung, Desinfection, Ouarantaine, Jwangs- 
spitälern rc. werden, wenn solche ketzerischen Ansichten weitere Verbreitung fänden. Gleichwohl steht 
Lorinser nicht allein mit seiner, auf reicher Erfahrung gegründeten, Ansicht, denn es sind uns zunächst 
noch zwei Privatärzte, die durch lange Jahre den Blatternabtheilungen der Krankenhäuser vorstanden, 
bekannt, die mit ihm übereinstimmen und auch in der Fachpresse begegnet man bezüglich der Eon- 
tagientheorie ernsten Bedenken. So hat Dr. Geh, der Herausgeber der ärztlichen Memorabilien, bei 
der letzten Impfcommission geäußert, er habe in Heilbronn die Cholera- uns zwei Pockenepidemien 
mitgemacht, und er sei nach dem Gesammteindruck, den er erhalten, bei beiden Krankheiten nicht ganz 
sicher, ob und wie weit sie contagiös seien, denn die Pocken hätten sich auf gewisse Stadttheile be 
schränkt, obwohl der Verkehr nicht abgeschlossen war und ebenso die Cholera, und immer seien es 
Haushaltungen gewesen, die insanitär, deren Häuser dunkel und schmutzig waren. Dieselben Beobach 
tungen macht man überall, denn wenn auch einzelne Fälle in wohlhabenden Familien vorkommen, 
so sind es doch stets die Arbeiterviertel und die schmutzigen Hütten auf dem Lande, wo Epi 
demien ihren Sitz haben, aber selbst in den Centren derselben bleibt die Mehrzahl der Be 
wohner gesund. Man hat oft bei Epidemien, besonders bei Cholera und Tvphus, das Trinkwasser 
als Ursache in Verdacht gehabt, allein abgesehen, daß solche immer nur zeitweilig eintreten, so kann 
man doch, wenn beispielsweise in Wien eine Million Bewohner täglich früher das filtrirte Donauwasser 
trank und alljährlich einige Hundert Personen am Typhus starben, logischerweise nicht dieses Wasser 
als Krankheitsursache beschuldigen, denn die Erkrankungen müßten sonst weit zahlreicher sein. Dazu 
kommt, daß der Typhus nicht bloß in Wien, sondern überall in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen, 
also andere Factoren dabei ins Spiel kommen müssen. Ohne Zweifel ist das Trinkwasser ein be 
deutendes, hygienisches Moment, das sich aber in der Besserung der allgemeinen Sterblichkeit zu
	        
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